Ein bisschen Frieden / SZ Magazin (Oktober 2021)

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Kann man mit Musik Konflikte entschärfen, Völker versöhnen, die Welt verändern? Markus Rindt, Gründer und Intendant der Dresdner Sinfoniker, versucht es unbeirrt – an Landesgrenzen, in Krisengebieten, auf Hochhausdächern

Am Morgen der letzten Probe, einen Tag vor diesem Konzert, das er seit mehr als einem Jahr geplant hat, geht Markus Rindt mit Ohrenschmerzen zum Arzt. Der guckt ihm links und rechts in den Kopf, entdeckt nichts, Rindt beichtet einen oder vielleicht auch zwei Gin Tonic zu viel am gestrigen Abend. Und morgen, erzählt Rindt dem Arzt noch, morgen wird er Musikerinnen und Musiker mit Alphörnern und Trompeten auf mehrere Hochhausdächer stellen, damit sie dort ein Konzert spielen, wie die Menschen es in Dresden, ach, auf der ganzen Welt noch nicht gesehen haben! Der Arzt diagnostiziert Rindt: akutes Lampenfieber.

So erzählt es Markus Rindt, als er zur letzten Probe auf dem Dresdner Messegelände zurückkehrt. Rindt ist 53 Jahre alt, die Hälfte dieser Jahre hat er gebraucht, um die von ihm mitgegründeten Dresdner Sinfoniker zu einem der profiliertesten Orchester für zeitgenössische Musik zu formen. Und zu einem der außergewöhnlichsten.

Anders als die meisten Orchester hat seines kein Stammhaus, in dem es spielt. Keine Staatsoper, keine Philharmonie, nicht mal einen eigenen Proberaum oder eine feste Besetzung. Markus Rindt betreibt ein »Bedarfsorchester«, so nennt er das: Wenn er Bedarf sieht, ein Konzert zu spielen, egal wo auf der Welt, packt er ein paar Mitstreiterinnen und Mitstreiter aus Deutschland ein, die anderen sucht er sich vor Ort. Er spielte zum 100. Jahrestag des türkischen Völkermords in Armenien. Er castete deutsche, israelische und arabische Musikerinnen und Musiker, um mit ihnen im Westjordanland zu spielen. Er demonstrierte dort, wo schon heute ein unüberwindbarer Grenzzaun Mexikaner und US-Amerikaner trennt, gegen Donald Trumps Mauerpläne und für Frieden und Solidarität.

Oft weiß Markus Rindt nicht bis in jedes Detail hinein, worum es bei den Konflikten geht, die er mit seiner Musik befrieden will. Aber er, 1989 aus der damaligen DDR geflohen, weil er es im Sozialismus nicht mehr aushielt, ist fest überzeugt davon, dass Menschen immer leiden, wenn Grenzen sie ein- oder aussperren. Und dass er dazu berufen ist, etwas dagegen zu unternehmen.

Für sein »Engagement gegen Nationalismus, Fanatismus und Abschottung« bekam er 2018 den Erich-Kästner-Preis, mit dem zuvor Architekten der deutschen Einheit wie Richard von Weizsäcker und Hans-Dietrich Genscher ausgezeichnet worden waren oder Sachsens politisches Heiligtum Kurt Biedenkopf. Rindt war »Europäischer Kulturmanager des Jahres« und einer der »Dresdner des Jahrzehnts«. Rindt könnte mit der Aufmerksamkeit und Anerkennung, die er erfährt, überaus zufrieden sein. Ist er aber nicht.

Anfang September 2019, gut ein Jahr vor seiner Ohrenarztdiagnose in Dresden, sagt Markus Rindt beim ersten Treffen mit dem SZ-Magazin: »Ich fühle mich wie eine Silvesterrakete, die einmal sehr hell leuchtet – und anschließend ungesehen verglüht.« Über seine Projekte im Westjordanland und in Mexiko haben die Tagesthemen und internationale Medien berichtet. Das Stück Aghet, in dem er den Völkermord in Armenien behandelte, löste eine diplomatische Krise zwischen Deutschland und der Türkei aus. Bloß, sagt er, solche Projekte zu stemmen sei wie ein Trip, dem zurück in der Heimat der Kater folgt. Wenn er merkt: Da bleibt in der Ferne nichts von der unschuldigen Freude, die er mitgebracht hatte. Der Hass hört nicht auf, die Grenzen existieren weiter.

Es geht bei Markus Rindt auch darum, ob es die vielbesungene Power of Music gibt: Welche Kraft hat Musik, was kann sie – und was kann einer wie Rindt mit ihr erreichen?

Über zwei Jahre hinweg hat das SZ-Magazin Markus Rindt begleitet. Ihm zugehört, wie er von der versöhnenden Kraft der Musik schwärmte und an ihr zweifelte, wie er vor Konzerten zauderte, restlos überzeugt war, sich zu viele Sorgen machte oder gar keine, mit Geldgebern rang und auch tatsächlich drei Dutzend Musiker dazu brachte, auf Hochhäuser zu steigen, um mit Alphörnern und Trompeten auf seine Heimatstadt Dresden hinunterzublasen.

Ende September 2019, Markus Rindt ist zu einer Klimakonferenz nach Karlsruhe gereist, auf der seine Sinfoniker das Abendprogramm bestreiten. Rindt sagt: »Musik kann die Seele anders sensibilisieren als das Wort.«

Auf eine andere Art als die Wissenschaftler und Politikerinnen, die auf der Konferenz reden, wolle er Umweltzerstörung und Klimawandel »hörbar machen«. Als würden Aliens Gregorianik singen heißt das Stück, das sie heute Abend spielen wollen. Ein Stück, das es nicht mehr gibt. Der Keyboarder, der das Stück geschrieben hat, hat die einzig existierende Ausführung der Noten tags zuvor in der Berliner S-Bahn liegen lassen.

Der Keyboarder sei halt so, sagt Rindt: verplant, aber genial, »einer der Top-Ten- Musiker«, die er jemals kennengelernt und in seiner »Datenbank« archiviert habe. Deshalb verzeihe er ihm, dass er die Noten verbummelt hat. Dann improvisieren sie eben an diesem Abend ein Stück.

Rindt spricht häufig über diese Datenbank, eine Tabelle auf seinem Computer, die rund 3200 Musiker listet. Man übertreibt nicht, wenn man sagt, die Datenbank sei Rindts Lebenswerk. Jeden Tag, sagt er, sitze er daran und pflege sie. Die Musiker und Musikerinnen hat er auf der ganzen Welt eingesammelt. Manchmal kam jemand dazu, den er in Deutschland live gehört hatte. Manchmal kam jemand dazu, wenn er in Indien oder Usbekistan durch ein Dorf spaziert war und aus einem Garten Töne gehört hatte, die ihn anzogen. Dann klopfte er an, zur Not machte er mit Händen und Füßen verständlich, er sei ja auch Musiker, und man könne sich doch gegenseitig zeigen, was man so draufhabe: »In der Musik finden wir eine gemeinsame Sprache.«

Neulich, erzählt Rindt, seien ihm Aufnahmen des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung untergekommen: Walgesänge, klickende und pfeifende Pelzrobben auf der Balz oder der Jagd, das Knacken brechender Eisberge. »Fantastische Töne«, sagt Rindt, aus denen er eine musikalische Idee entwickelt hat: Als würden Aliens Gregorianik singen erzeugt auf selbst gebauten Celli aus Stahl düstere, schwere, bedrohliche Töne, eine akustische Warnung: Es ist ernst. Eines Tages möchte Rindt ein Simultankonzert auf allen Kontinenten der Welt machen: indigene Musiker aus dem brasilianischen Regenwald. Kasachische Musiker, die im ausgetrockneten Teil des Aralsees spielen. Die Zentrale seines Klimakonzerts würde er am liebsten in die Antarktis legen. Besonders mag Rindt seine Idee, den Dirigenten im Frack vor die Polarstation zu stellen: »Da sieht er aus wie ein Pinguin.«

Die Musiktherapie ist eine wachsende Sparte innerhalb der Medizin. Sie erforscht, inwieweit Musik den Verlauf von Krankheiten mildern kann. Es gibt Parkinson- Patienten, die ohne Mühe tanzen, wenn sie Musik hören. Alzheimer-Patienten, die sich dank Musik an Dinge erinnern, die sie längst vergessen hatten. Bei Wachkoma-Patienten lässt sich eine verstärkte Hirnaktivität messen, wenn sie vertraute Töne hören. Musik hat nachweislich eine heilende Wirkung auf Menschen. Aber kann Musik auch dabei helfen, Gesellschaften zu therapieren, die an Rassismus leiden, an Hass oder – im Fall der Klimakrise – an Ignoranz? Kann einer wie Markus Rindt mit seinen »musikalischen Interventionen«, wie er seine Konzerte nennt, wenigstens die Symptome lindern? Er versucht es jedenfalls schon sehr lange.

Die erste Intervention unternahm Rindt am 1. Mai 1987, da war er 19 Jahre alt und studierte Horn an der Dresdner Musikhochschule. Am Tag der Arbeit, so erzählt er es heute, nötigten sie ihn, mit dem Orchester der Hochschule bei den Feierlichkeiten vor Parteigrößen und Kombinatsbossen zu spielen. Eine Demonstration des musikalischen Könnens der sozialistischen Jugend sollte es werden. Die Hornisten spielten erstaunlich mies, immer ein paar Noten daneben, ein paar Takte zu früh oder zu spät. Immer schiefer klangen sie, bis das Konzert ihretwegen abgebrochen wurde. Die sozialistische Führung war blamiert von einem akustischen Sabotage akt, geplant und umgesetzt von: Markus Rindt. Es kam raus, jemand musste ihn verpfiffen haben. Sie drohten ihm, ihn von der Hochschule zu schmeißen. Sein damaliger Horn-Lehrer rettete ihn, indem er einen Kompromiss aushandelte: Rindt durfte weiter studieren, musste aber dafür zahlen. Daher war er nun gezwungen, sich einen Job zu suchen, was ihn aber nicht störte, im Gegenteil, sagt er: »Schon 1988 erfüllte sich so mein erster Traum: Ich wurde Hornist in einem echten Orchester, auch wenn es nur ein kleines Provinzorchester in Sachsen war. Aber mein zweiter Traum, als Musiker die Welt zu sehen, war in der DDR unerreichbar.«

Im Wendeherbst 1989 hielt er es nicht mehr aus. Über die Prager Botschaft haute er ab und von dort mit dem Zug nach Bayern und schließlich nach Köln, wo er zu Ende studierte. »Ich bin mit dem Gefühl eingestiegen: Jetzt fahre ich in die Freiheit.« Seitdem ist sie, die Freiheit, seine zentrale Denkfigur. Und Musik seine Waffe gegen die Feinde der Freiheit: Mauern, Grenzen, Abschottung.

Dafür gründete er mit Freunden im Sommer 1997, zurück in seiner alten Heimat, sein eigenes Orchester: die Dresdner Sinfoniker. Musiker kamen und gingen, Markus Rindt blieb, und so wurde im Lauf der Jahre ein Prinzip daraus. Um ihn herum werkelt ein kleines Kernteam, eine kennt sich etwa besser mit Zahlen aus als er, und die Musikerinnen und Musiker kommen nach Bedarf dazu. »Ob wir bei einem Projekt sieben oder 70 Menschen sind«, sagt Rindt: »Das sind in dem Moment die Dresdner Sinfoniker.«

Es folgten kleine Konzerte in der Heimat, 2003 der erste internationale Erfolg: Die Sinfoniker interpretierten Songs der Band Rammstein, gesprochen von der Schauspielerin Katharina Thalbach. Das Album gewann einen Echo in der Kategorie Klassik. Ein Jahr später kamen die Pet Shop Boys zu Markus Rindt nach Dresden, um gemeinsam ein Album aufzunehmen. Musikalisch wurden sie ernst genommen, nun fehlte Rindt und seinen Sinfonikern noch das Erfüllen der politischen Mission.

Im April 2016 war es so weit: Die Sinfoniker lösten mit dem Stück Aghet eine diplomatische Krise aus. »Aghet« ist das Wort der Armenier für den Genozid an ihrem Volk. Das Konzert, das an die Verbrechen der Jahre 1915/16 erinnern sollte, sollte ursprünglich im deutschen Generalkonsulat in Istanbul stattfinden. Rindt schrieb ohne Absprache mit dem Konsul einen Brief an den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Eine Einladung zum Dialog, fand Rindt. Eine Unverschämtheit, fand Erdoğan. Die Beziehung der zwei Länder war ohnehin eisig. Gerade stritt sich der Satiriker Jan Böhmermann mit der deutschen und türkischen Regierung, ob er Präsident Erdoğan in einem Gedicht einen »Ziegenficker« nennen durfte.

Die Türkei verlangte, die Förderung für Aghet einzustellen, darüber diskutierten das EU-Parlament und der Bundestag, die Geld für das Projekt gegeben hatten. Doch EU-Kommission und Bundesregierung weigerten sich. Die Türkei verließ das Kulturprogramm der Europäischen Union, Rindt bekam Drohmails von radikalen Erdoğan-Anhängern in Deutschland. Das hielt er aus. Er hatte mehr Streit verursacht, als er beilegen konnte, das konnte ihn nicht stolz machen. Und doch, sagt er, ein wenig Freude sei da, wenn er an die Pointe der Geschichte denke: Den frei gewordenen Platz im milliardenschweren EU-Kulturprogramm nahm Armenien ein. Aghet führten die Sinfoniker schließlich in Dresden auf.

Überhaupt, Dresden. Eine Stadt, bei der viele Deutsche seit einigen Jahren an Pegida denken, an Wutbürger, an das Zentrum des neuen Rechtsrucks. Im Herbst 2019 verfolgt Rindt die sächsische Landtagswahl im Fernsehen, er sieht, dass jeder vierte wahlberechtigte Sachse die AfD gewählt hat – eine Partei, die für alles steht, was Rindt verachtet. Dresden ist bei dieser Wahl so gespalten wie kaum eine andere Stadt in Sachsen. Da ist auf einer Seite der liberale Stadtteil Neustadt, wo die AfD auf drei Prozent kommt. In Prohlis-Nord dagegen, fernab der linken Kneipen und Montessori-Kindergärten, wird sie mit 40,7 Prozent die mit Abstand stärkste Partei. Und Markus Rindt beschließt: Das nächste Projekt wird ihn nicht in die Welt hinausführen, er wird sich erst einmal nicht um den Klimawandel, Völkermord oder Unterdrückung in fernen Ländern kümmern. Sondern um die politische Zerrissenheit Dresdens.

Ende Mai 2020, Markus Rindt steht auf dem Parkdeck eines Einkaufszentrums in Dresden-Prohlis und prustet einem ihm unbekannten Herrn was vor. Die Wohnungsgesellschaft, der die Plattenbauten um sie herum gehören, hat ihn geschickt. Rindt demonstriert dem Herrn die besondere Lippenspannung, die es braucht, um einem Alphorn Töne zu entlocken. Rindt ist ein physischer Mensch, er zeigt lieber, als dass er erklärt, besonders wenn es um Musik geht. Sehr tief atmet er ein, schwingt dabei mit den Armen zurück, schürzt die Lippen und erzeugt beim Ausatmen, das er mit seinen nun wieder vorschwingenden Armen unterstreicht, einen sehr langen und sehr dunklen Ton: Wwwwwwwwuuuhhh. Genau so klinge ein auf Ges gestimmtes Alphorn, das er da gleich auf die Dächer stellen werde.

Heute wollen sie zum ersten Mal proben, was Rindt Himmel über Prohlis genannt hat: Musikerinnen und Musiker, platziert auf vier Dächern im Abstand von gut einem halben Kilometer Luftlinie. Mit Alphörnern, weil ihn die Hochhäuser an steil zulaufende Berggipfel erinnern. Dazu das Parkdeck als Bühne, das Publikum in den Balkonen drum herum sitzend wie in Theaterlogen. Aus Versehen hat Markus Rindt ein ideales Projekt für die Corona-Zeit geschaffen.

Denn seit Rindt an dem Projekt arbeitet, hat sich sein Anspruch verändert: Als er anfing, über Himmel über Prohlis nachzudenken, war es sein Antrieb, den Dresdnern eine Art Hochkultur-Geschenk zu machen, die sonst weniger mit Hochkultur anfangen können. Im Herbst 2019 entwickelte Rindt daraus eine seiner musikalischen Interventionen: ein Konzert gegen die Spaltung der Stadt Dresden. Seinen endgültigen Schliff erhielt das Stück in der Corona-Zeit, in der die Kultur verstummt war. Musik, live aufgeführt, draußen.

Eine Anwohnerin zieht bei der Probe die Gardinen zu, einer brüllt: »Jetzt hört doch uff mit dem Lärm!«

Am Mittag bläst das erste Alphorn auf dem Dach den sehr langen und sehr tiefen Ton, den Rindt dem Herrn der Wohnungsgesellschaft vorgemacht hatte. Schnell füllen sich die Balkone. Die weiteren Alphörner stimmen ein. Auf Bitten des Komponisten Markus Lehmann-Horn, der zum ersten Mal Teil der Sinfoniker ist, proben sie zum Anfang eine besonders schwierige Stelle des Stücks. Eine Anwohnerin zieht kopfschüttelnd die Gardinen zu, ein anderer brüllt: »Jetzt hört doch uff mit dem Lärm!«

Rindt hatte vorher nichts vom Stück gehört, der Komponist hatte es nicht herausgerückt. Rindt hat unterschätzt, wie die Menschen reagieren, die zum ersten Mal von ihnen und dem Projekt hören. Man hätte sich ankündigen sollen, sagt er später. Flyer drucken, sich bei einer Einwohnerversammlung vorstellen, so was. Am besten wäre es wohl gewesen, man hätte Alpenromantik versprüht, vielleicht ein hübsches Volkslied gespielt und nicht die schwierigste, unzugänglichste Stelle des Stücks geübt. Nach einer halben Stunde wird die Probe abgebrochen wegen weiterer Beschwerden der Anwohner.

So wird das nichts. Noch auf dem Parkdeck sucht Rindt auf Youtube eine Aufnahme der Olympic Fanfare von John Williams: »Bababaaa«, Rindt imitiert die Hörner, »babababbaaabaa, baabaaaaba – so was ist überzeugend!« Vielleicht, sagt er, müsse er beim Himmel über Prohlis »den Kubrick« machen: Der Regisseur hatte für seinen Film 2001: Odyssee im Weltall gleich zwei Filmmusiken bestellt – und, weil sie ihm nicht gefielen, keine davon für den Film benutzt.

Rindt fürchtet, er habe es sich verscherzt mit den Prohlisern, für die er dieses Konzert doch spielen will. Ihre Probe heute müsse gewirkt haben, als kämen da die arroganten, elitären Kulturfritzen, um – buchstäblich – von oben herab zu spielen.

Vier Monate später, Mitte September 2020, wenige Tage vor dem Konzert und kurz bevor ihm der Arzt akutes Lampenfieber diagnostizieren wird, schwärmt Markus Rindt bei der Probe plötzlich vom Stück des Komponisten. Er hatte im Mai ja nur Ausschnitte gehört, aber als der Komponist ihm endlich das ganze Stück zugeschickt hatte, lud Rindt Freunde zum Hören und Weintrinken ein und war nach dem ersten Durchlauf begeistert: »Ich kriege Gänsehaut, wenn ich nur drüber rede«, sagt er. Man müsse eben doch Vertrauen haben. Rindt hat trotzdem entschieden, seinen spontanen Parkdeckeinfall bei der Probe umzusetzen und zum Einstieg des Konzerts, vor dem Stück des Komponisten, die Olympia-Fanfare zu spielen.

Am Abend hat Rindt in einer Gaststätte reserviert, für sich und die drei Dutzend Musikerinnen und Musiker, die so gut wie alle aus seiner Datenbank stammen – und die wenigen, die er vorher noch nicht gekannt hatte, stehen jetzt drin. Rindt eilt von einem Tisch zum nächsten, wie ein Bräutigam, der wenigstens kurz mit jedem aus der Hochzeitsgesellschaft gesprochen haben will. Das ist der eine Punkt, warum sie kommen, wenn Rindt sie ruft: Man mag sich. Viele der Musikerinnen und Musiker sind befreundet. Und in einem Orchester ohne feste Besetzung, wo es keinen ersten und zweiten Geiger gibt, ist Streit unwahrscheinlicher. Vielleicht braucht Rindt, der Gutes tun will, statt nur Großes zu erreichen, vor allem diese Nestwärme.

Der zweite Punkt ist das Abenteuer, das Rindt den Musikern verspricht. Sicher, solche wie der einstige Solo-Hornist der Münchener Philharmoniker verdienen mit Engagements in renommierten Häusern mehr Geld. Sie werden eher in Feuilletons besprochen, aber sie spielen dort eben Spielzeit für Spielzeit ihren Beethoven, ihren Orff oder Wagner, schälen sich aus dem Orchesteranzug und machen Feierabend. Wer sich mit Markus Rindt einlässt, reist in Krisengebiete, löst Staatskrisen aus – oder wird eben auch mal auf einem 17-stöckigen Hochhaus stehen, so nah am Rand des Hauses, dass man ihn festgurten muss, damit er auf keinen Fall herunterstürzt.

Am Tisch der Hornisten werden die Nachwendejahre in Dresden diskutiert, als sie mit Baseballschlägern zwischen den Knien im »Raskolnikow« saßen, einer linken Szenekneipe, und durchs Toilettenfenster fliehen mussten, wenn sie »den Trabi mit den Nazis« hörten. Damals sahen sie mit an, wie jene Nazis schwarze Menschen auf die Bordsteine beißen ließen und ihnen ins Genick sprangen. Später sagt Rindt, auch wegen dieser Geschichten der Nachwendezeit wolle er jetzt das Konzert in Prohlis machen. Menschen durch Musik versöhnen. Löst er das eigentlich je ein? Kann er es einlösen?

Man kann den Effekt einer Markus-Rindt- Konzert-Intervention nicht messen, sie wird auch nicht in Gesetze oder Friedensverträge gegossen. Gut, die Türkei verließ das Kulturprogramm der Europäischen Union, Armenien rückte nach. Aber sonst? Was da sonst bleibt von dem, was Rindt tut, versuchen diejenigen in Worte zu fassen, die Zeugen davon waren.

»Konzerte sind keine Bomben, die explodieren, und direkt sieht man eine Wirkung. Im Gegenteil: Kultur zerstört nicht, sie baut auf. Aber das dauert. Kultur wirkt langsam, dafür wirkt sie tief. Als Iraner konnte ich damals nicht nach Israel reisen, um das Konzert zu sehen, auf dem Markus meine Musik aufführen ließ. Dabei lag darin doch die besondere Schönheit: Ein deutsches Orchester spielt in Israel die Musik eines iranischen Komponisten. Das gefiel auch den Menschen in Ramallah und Jerusalem! So wie ich Markus kennengelernt habe, fragt er sich nie: Was springt für mich dabei raus? Für ihn zählt nur die Botschaft von Versöhnung.« (Kayhan Kalhor, iranischer Komponist für das Projekt Symphony for Palestine, 2013)

»Niemand in Armenien zweifelt daran, dass es den Völkermord gegeben hat. Jeder hat seine Geschichte dazu. Aber dass hundert Jahre später Markus, ein Deutscher, zu uns kommt, ein Konzert organisiert, um diese Wahrheit laut und mutig auszusprechen – das war für mich ein Zeichen der Hoffnung. Dafür, dass am Ende doch die Menschlichkeit siegen wird.« (Vache Sharafyan, armenischer Komponist bei Aghet, 2016)

»Ich bin es gewohnt, dass wir Mexikaner an der Grenze gegen die amerikanische Immigrationspolitik protestieren. Als ich davon hörte, dass dieser Deutsche mit seinem Orchester ein Konzert an der Grenze plant, war ich überrascht. Und fasziniert. Das Konzert selbst war unglaublich gut besucht, die Menschen auf der mexikanischen Seite haben sich gesehen gefühlt – von ihm und von der Öffentlichkeit, die er mitgebracht hat.« (Ceci Bastida, mexikanische Sängerin, die 2017 auf dem Konzert Tear Down This Wall auftrat.)

In der Nacht vor dem Konzert in Prohlis schläft Rindt schlecht. Er sagt später, ständig habe er sich Sorgen gemacht: Hält das Wetter? Was, wenn es einen Corona-Fall im Orchester gibt? Was, wenn das Konzert den Menschen in Prohlis genauso wenig gefällt wie die Probe? Es nagt an ihm, wie sie da gewirkt haben, elitär und nicht auf Augenhöhe. Deshalb hat er beschlossen, am Vormittag Kleingruppen von Musikern in den Höfen der Hochhäuser spielen zu lassen. Sie sollen nahbar sein, bevor sie am Nachmittag weit weg sind, auf den Dächern.

Rindt hatte auch überlegt, ob er einen Moderator für das Konzert engagiert. Aber er hat entschieden, er macht das selbst. Fünf Minuten vor Beginn macht er sich schnell ein paar Notizen, die er auf der Bühne weghaspelt, und dann prasselt von oben die Olympia-Fanfare auf Prohlis. Und anders als im Mai, bei den misslungenen Proben, meckert niemand. Offene Münder, filmende Smartphones, das Parkdeck ist voll, der Vorplatz ist voll, die umliegenden Straßen sind voll, und von den Balkonen applaudieren die Menschen. Am lautesten klatscht Markus Rindt selbst, mit Tränen in den Augen neben seinem Komponisten, sehr aufgeregt und gerührt von seiner Schöpfung.

Noch einmal zurück zu der Frage: Was kann Musik?

Musik verbindet Menschen. Allein das gemeinsame Hören lässt Menschen etwas Gemeinsames fühlen. »Ko-Pathie« nennt das die Forschung: Musik synchronisiert die emotionalen Empathie-Zentren in den Gehirnen. Ein Forschungsteam der Universität Oxford vermutet, dass so ein Synchron-Erlebnis das endogene Opioid-System im Gehirn aktiviert. Das ist für die Ausschüttung des Neurotransmitters Endorphin zuständig: Es fühlt sich gut an, synchronisiert zu sein. Die Forscher wiesen neben dieser kurzfristigen Wirkung auch eine langfristige nach: Menschen verhalten sich nach einem Synchron- Erlebnis friedlicher, kooperativer, freundlicher, hilfsbereiter. Das Gehirn baut eine neue Verbindung auf, zwischen Musik hören und sich gut fühlen und gut handeln. Diese Verbindung, das ist sie: die Kraft der Musik, die einer wie Markus Rindt mit Projekten wie Himmel über Prohlis erzeugt.

Das war die lange Antwort, die biochemische. Es gibt auch eine kurze. Eine Prohliser Familie hat sie, offenbar spontan, in großen Buchstaben auf ein Bettlaken gemalt und es während des Konzerts an ihren Balkon gehängt, sodass es alle sehen können: »DANKE«.

Zehn Monate später, Juli 2021, die Laeiszhalle in Hamburg, einer der schönsten Prunksäle Deutschlands. Durch die riesige Glasdecke dringt das Licht über den Neobarock der Ränge auf die Bühne. Da, wo so ein Sinfonieorchester hingehört. Die Dresdner Sinfoniker aber proben hier nur. Das Konzert am darauffolgenden Tag spielen sie auf dem Fußballplatz des SV Grün-Weiß Eimsbüttel inmitten der weißen Hochhäuser der Lenzsiedlung, eines winzigen Stadtteils mit gut 3000 Einwohnern, vor allem jung und migrantisch. Es gibt deutlich mehr Arbeitslose als im restlichen Hamburg. Ein ähnliches Publikum wie in Prohlis. Oder wie Rindt sagt: »Die Westvariante des sozialistischen Wohnungsbaus.« Für sie spielen die Dresdner Sinfoniker Himmel über Hamburg, die zweite Aufführung der Alphörner auf Hochhäusern.

Rindt hat seine Musiker wie immer alle im selben Hotel untergebracht. Am Abend nach der Probe wird gemeinsam davor Kette geraucht, getuschelt, geflirtet. Eine erzählt von ihrem tiefergelegten Audi TT, den sie sich im zweiten Lockdown im letzten Winter zugelegt hat. Ein anderer, wie er und seine harfespielende Frau erneut ohne Aufträge dastanden und für ein Videoprojekt Mini- Konzerte an plötzlich verlassenen Orten spielten: im Affengehege des Dresdner Zoos oder auf dem Rasen des Rudolf-Harbig- Stadions von Dynamo Dresden. Als die Kultur ein zweites Mal verstummte, hatten sie alle, die ein Teil des Himmel-Projekts sind, viel Zeit und wenig zu tun. Einer, der für die Musiker den Fahrdienst macht, diskutiert mit dem Dirigenten, ob diese erneute Lockdown-Leere fürchterlich belastend war oder vielmehr, aus buddhistischer Sicht, ein Geschenk, eine Einladung zur inneren Einkehr. Sie einigen sich darauf, noch schnell ein Glas Weißwein an der eigentlich schon geschlossenen Hotelbar zu erbetteln.

Die Probe in Hamburg ist der Beginn eines Projekts, das in Serie gehen soll. Längst gebe es lose Gespräche für den Himmel über Helsinki, São Paulo, Litauen, Griechenland, erzählt Rindt. Auch das ist eine Premiere für ihn: ein Projekt zu wiederholen. Fürchtet er, dass die Kraft des Einzigartigen so verloren geht? »Überhaupt nicht«, sagt Rindt. Würde er jetzt in austauschbaren Konzertsälen auf Tour gehen, dann vielleicht. Aber andere »architektonische Perlen zu bespielen«, wie er die Plattenbausiedlungen der Welt nennt, auch in anderer Besetzung oder mit einem anderen Stück, einem anderen Programm, anderen Instrumenten, jeweils angepasst an die Zeit und den Ort, das sei doch jedes Mal ein neues Abenteuer.

Ein ganz simples Beispiel, sagt er: Für das Konzert in Hamburg habe er dieses neue Element ins Stück eingeführt – elf Vuvuzelas, jene nervtötenden Trötröhren, berühmt seit der Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika 2010. Schließlich, sagt Rindt, spielen sie ja morgen auch auf einem Fußballplatz, nur gut eine Woche nach dem Finale der Europameisterschaft. Außerdem sei die Vuvuzela ähnlich wie das Alphorn ein musikalisch unterschätztes Instrument. Zum Beweis zwängt Rindt in der Laeiszhalle seinen Mund in die Öffnung einer Vuvuzela, trötet laut, verändert darin die Lippenspannung und somit den Ton, setzt ab und erklärt den umstehenden und eher unbeeindruckten Musikern: »Seht ihr? Eine ganze Terz Tonumfang – aus so einem Ding!«

Rindts Begeisterung in diesem Moment erklärt sich auch dadurch, dass er, der ausgebildete Hornist, seit Jahren nicht mehr selbst auf einer Bühne stand, um Konzerte zu spielen. Er hat sie lieber organisiert, vor 15 Jahren hörte er sogar auf, sein geliebtes Horn zu üben. Er sagt, mittlerweile sei er dermaßen aus der Übung, dass er sein Spiel wirklich niemanden mehr zumuten würde. Zumindest mit dem Horn. Mit der Vuvuzela – das sei natürlich etwas anderes: sein Comeback als Musiker.

Am nächsten Tag, die Sonne steht schon tief über der Lenzsiedlung in Hamburg, im letzten Drittel der fehlerfreien und vom Publikum wohlwollend beklatschten Aufführung des Stücks greift Markus Rindt unter sich nach seiner Vuvuzela. Quer marschiert er damit über den Fußballplatz, ihm hinterher die zehn weiteren Vuvuzela-Spieler, die sich im Rücken der Zuschauer platzieren. Rindt wippt, breit grinsend, die Augen geschlossen, die Vuvuzela fest umklammert, nach vorn und nach hinten, Ferse, Zehenspitzen, Ferse. Dann führt er die Vuvuzela an den Mund, atmet sehr tief ein – und drückt einen langen, dunklen, dröhnenden Ton heraus. Er ist der Erste, der den Ton spielt, und der, der ihn am längsten hält, während die anderen mit hochrotem Kopf schon aufgegeben haben. Das Publikum jubelt am Ende des Konzerts.Ja, was bleibt von so einer Markus-Rindt- Konzert-Intervention? Werden sich die Menschen in der Lenzsiedlung nun ein Spielzeit- Abo für die Elbphilharmonie besorgen? Wahrscheinlich nicht. Werden die Prohliser bei der nächsten Wahl davon absehen, die AfD zu wählen? Wahrscheinlich nicht. Die Wirkung, die Markus Rindt auf die Welt hat, ist aber mit Sicherheit größer, als sie es wäre, wenn er gar nichts unternommen hätte. Und das ist, auch wenn es nie genug ist, genug.

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