Ein Diakon gerät in Verdacht, sich an einer alten Dame bereichert zu haben. Vor Gericht gewinnt er – doch die Kirche, der er ein Leben lang gedient hat, verfolgt ihn weiter
Am Abend bevor das Verfahren gegen ihn enden wird, das seit sieben Jahren läuft, knetet der Diakon Georg Herrmannsdörfer einen rot-schwarzen Drachen aus Plüsch. Ein Glücksbringer seiner Tochter. »Zuerst«, sagt er, »habe ich das Ding für ein Teufelchen gehalten.« Ausgerechnet der solle ihm, dem Mann Gottes, Glück bringen? Quatsch, habe seine Tochter gesagt, kein Teufel. Das sei ein Drache! Da verstand Herrmannsdörfer: Seine Geschichte ist die des heiligen Georg, mit dem er seinen Vornamen teilt. Jenes Ritters, der der Legende nach einen übermächtigen Drachen besiegt haben soll.
Georg Herrmannsdörfer, 61 Jahre alt, ist ein freundlicher Mann mit weißem Bart, der selbst in einer schnöden Hotellobby im Norden Hannovers so betont spricht, als stünde er auf einer Kanzel. Mit seiner Frau Martina ist er in zweiter Ehe verheiratet, in der ersten hatte er fünf Kinder bekommen, seit vier Jahrzehnten ist er Diakon in Niederbayern. Für die Kirche war er Missionar, hat in ihrem Auftrag Polizisten darin geschult, Todesnachrichten zu überbringen. Als Notfallseelsorger hat er mehrere Menschen vom Suizid abgehalten, dafür hat ihn die Stadt Passau sogar ausgezeichnet. Zuletzt arbeitete er als Seelsorger für Kur- und Klinikgäste in Bad Füssing und Bad Griesbach, nahe der österreichischen Grenze, zuständig für neun Kliniken mit 2731 Betten. Fünfzig Stunden die Woche, sechzig Stunden, manchmal noch mehr. Und nun hockt er in diesem Hotel am anderen Ende der Republik und wartet auf sein Schicksal.
Die Geschichte, die den Diakon im Jahr 2021 an das höchste Gericht der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) führt, nimmt ihren Anfang am 26. September 2007. Bei einer privaten Trauerfeier begleitet er den Gesang einer Bekannten auf der Gitarre. So was macht er oft, neben dem Dienst in der Kirche. Die konfessionslose Isa Wagner*, gerade Witwe geworden, bedankt sich anschließend bei ihm für die schöne Musik. Sie lädt ihn zum Kaffee ein.
Sie mögen sich gleich, die Witwe und der Diakon. Sie freunden sich an. Sehr schnell. Und sehr eng. Innerhalb weniger Monate tauschen sie die Wohnungsschlüssel aus, verbringen Familienfeiern zusammen, sogar Weihnachten. Im Hotel holt Herrmannsdörfer jetzt Fotos aus seiner Aktentasche, darauf wirkt Isa Wagner glücklich. Wie ein Teil der Familie. Herrmannsdörfer erzählt weiter, wie er und seine Frau für die Witwe einkauften, wie sie ihre Hand hielten bei Arztterminen. »Weil sie sich das gewünscht hat, habe ich sie ›Mam‹ genannt«, sagt Herrmannsdörfer.
Seine biologische Mutter lebt damals zwar noch, hat sich aber von ihm abgewandt, als er entschied, sein Leben der Kirche zu widmen. Wohl auch deshalb freut sich Georg Herrmannsdörfer über die neue alte Dame in seinem Leben. »Sie nannte mich ihren Sohn«, sagt Herrmannsdörfer, der bald auch die leiblichen Söhne der Witwe kennenlernt: »Wir waren wie Brüder.« Herrmannsdörfer kann dieses liebevolle und familiäre Verhältnis mit Isa Wagner und ihren Söhnen mit allerlei Briefen belegen, mit weiteren gemeinsamen Fotos. Als einer seiner »Brüder« ein Kind bekommt, schickt der eine Karte und lädt den Diakon zur Taufe ein.
Doch was später zwischen »Mam« und ihrem »Sohn« passiert, davon gibt es dann zwei Versionen.
Die eine erzählt Georg Herrmannsdörfer selbst. Er, der Privatmann, findet in der Witwe Isa Wagner eine Ersatzmama, sie einen weiteren Sohn, ein neues Familienmitglied, nachdem der Tod ihr ein anderes genommen hat. Die Witwe findet dank Georg zurück zu Gott und tritt wieder in die Kirche ein, die sie vor Jahrzehnten verlassen hat.
Sie geben einander Freundschaft, Wärme, Halt. Und sie gibt ihm Geld. Sie braucht es nicht, er umso dringender: die Raten für das Haus, eine Verletzung der Frau, die sie arbeitsunfähig macht. Eine Mama hilft, ein Sohn lässt sich helfen. Darauf einigen sie sich. Siebenmal überweist Isa Wagner Geld an Georg, insgesamt gut 43.500 Euro. Eine hohe Summe. In den Verwendungszweck schreibt sie: »Freundschaft«. Oder: »Weihnachten«. Was soll schon dabei sein, wenn eine, die Geld hat, es einem gibt, dem es fehlt? In der zweiten Version der Geschichte klingt das anders. Darin schleicht sich Georg Herrmannsdörfer, der Diakon, in das Leben der alten Dame Isa Wagner. Führt sich als Seelsorger eine reiche Witwe zu und nimmt sie aus. So wird es Isa Wagner selbst später sehen und gegen ihren Ersatzsohn vor Gericht ziehen. Und das wird auch seinen Arbeitgeber interessieren. Georg Herrmannsdörfer, ein Erbschleicher im Dienste des Herrn?
Das befürchtet die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, kurz ELKB – und eröffnet ein Disziplinarverfahren gegen den Diakon. Kurz nach Beginn dieses Verfahrens wird Herrmannsdörfer vom Dienst suspendiert. Seither wird er gedemütigt, verleumdet, ausgestoßen. Von der eigenen Kirche. So sieht es Herrmannsdörfer.
Und morgen, vor dem Kirchengericht der Evangelischen Kirche, ihrem höchsten Rechtsorgan in Deutschland, heißt es entweder: Rehabilitation für alles, was ihm angetan wurde. Oder: endgültige Amtsenthebung. Nach allem, was passiert ist, glaubt Herrmannsdörfer an diesem Abend nicht, dass es anderntags gut ausgehen wird für ihn: »Ich habe Angst vor der Kirche entwickelt«, sagt er. Hoffnung bringe allein Beten. Den Glauben könne ihm selbst die Kirche nicht nehmen, sagt er.
Seine Frau Martina, die neben ihm im Hotel in Hannover sitzt, sagt: »Wenn Jesus Wunder tun kann, dann morgen.« Auch sie spürt Angst, nicht nur heute, tief in ihrem Bauch. Martina und Georg Herrmannsdörfer haben eine Schlafstörung entwickelt. Albträume, Wachliegen, nicht wissen, wie es weitergehen soll – so geht es in vielen Nächten. Herrmannsdörfer blickt zu seiner Frau: »Seit sieben Jahren haben wir fast gar nicht mehr mit ein an der gelacht.« Sie sagt: »Was wir durchmachen, ist die Hölle.«
Allein die Kosten für den Prozess und den hoch spezialisierten Anwalt für Kirchenrecht schätzt Georg Herrmannsdörfer auf eine niedrige sechsstellige Summe. Wenn sie morgen vor Gericht verlieren – was soll aus dem Häuschen werden, das die beiden gekauft haben, um darin gemeinsam alt zu werden? Während des Disziplinarverfahrens werden seine Bezüge deutlich reduziert. Wenn es morgen schiefgeht, sinken sie nochmals. Dann sind sie ruiniert.
Ein Christ wie Herrmannsdörfer glaubt, einmal von Gott gerichtet zu werden. Nun findet er sich im Frühjahr 2021 in einem sehr irdischen Gerichtssaal in Hannover wieder. Ein unscheinbarer Raum, moderner Mehrzweck. Hohe Fenster, viel Licht, viel Luft und Kälte. Wegen der Pandemie müssen während der Verhandlung durchgehend die Fenster geöffnet bleiben. Die EKD prozessiert hier, an ihrem offiziellen Hauptsitz, gegen einen der Ihren – sieben Jahre nachdem dieser von der weltlichen Zivilkammer des Landgerichts Passau bereits in allen Punkten recht bekommen hat. Das wirft nicht nur die Frage auf, ob hier einer, der sein Leben dem Glauben widmet, es vollends der Kirche übergeben muss. Sondern zusätzlich jene, ob sich die gesetzlich verankerte Trennung von Kirche und Staat wirklich auch auf das Recht beziehen sollte.
Zur Verhandlung am Kirchengericht Hannover im März 2021 hat sich Georg Herrmannsdörfer einen Anzug angezogen, er sieht müde aus nach der Nacht mit wenig Schlaf und vielen Gedanken. Er zieht Unterlagen aus seiner Aktentasche, steckt einige sofort wieder zurück. Die übrigen sortiert er mehrfach neu vor sich auf der Tischplatte. Die ehrenamtlichen Richter betreten den Saal, gläubige Juristen, die eigentlich an weltlichen Gerichten arbeiten. Den Vorsitz hat ein Verwaltungsrichter aus Baden-Württemberg. Er begrüßt die Anwesenden mit Psalm 34,7: »Als einer im Elend rief, hörte der Herr und half ihm aus allen seinen Nöten.« Amen.
Im Schnelldurchlauf geht es zunächst um die Beziehung der Witwe zu dem Diakon. Wie haben sie sich kennengelernt? Was haben sie unternommen? Wie oft haben sie sich getroffen? Und was führte eigentlich zu dem Bruch?
Georg Herrmannsdörfer erzählt von den ersten Tagen des Jahres 2013, dem Wendepunkt in der Beziehung zu Frau Wagner. Und dem Anlass dafür, dass Herrmannsdörfer später in einem Word-Dokument auf seinem Rechner jede weitere Phase der Eskalation penibel protokollieren wird. Das Dokument heißt: »Chronologie des Grauens«.
Also, kurz nach Neujahr 2013 ist Isa Wagner abends bei den Herrmannsdörfers zum Essen eingeladen. Eigentlich soll es nur ein kleiner Abschied werden, ein paar Wochen wird man sich wohl nicht sehen. Der Diakon fährt in den Urlaub, seine Frau in die Reha. Es gibt Ente. Ein schöner Abend.
Doch dann wird die Reha abgesagt, und Herrmannsdörfer storniert seinen Urlaub. Die gewonnene Zeit verbringt das Paar zu Hause – ohne die geänderten Pläne bei der Witwe zu melden. Warum sollten sie auch?
Für die Ersatz-Mama allerdings, so erklärt es sich Herrmannsdörfer später selbst, muss es so ausgesehen haben, als hätte das Ehepaar eine Reha erfunden, um mal »in aller Ruhe die Füße hochlegen zu können« und nicht von der alten Dame gestört zu werden. Herrmannsdörfer sagt, seine »Mam« habe das offenbar ziemlich gekränkt.
So richtig versteht er bis heute nicht, dass eine abgesagte Reha so vieles zwischen ihnen kaputt gemacht haben soll. Es folgen böse Briefe und Telefonate, Georg Herrmannsdörfer versucht zu versöhnen. Doch er schafft es einfach nicht mehr. Manchmal ist es ja so: Nicht der tatsächliche Auslöser ist entscheidend, sondern all das, was viel zu lange ungesagt blieb und sich plötzlich mit Macht Bahn bricht. Gerade zwischen seiner Frau und der Witwe sei damals etwas zerbrochen, das nicht mehr zu kitten gewesen sei, sagt Herrmannsdörfer. Beide Frauen halten die jeweils andere für krankhaft eifersüchtig. Rückblickend, sagt er, frage er sich schon, wieso ihn die Witwe so oft gestreichelt hat oder sich so sehr wünschte, ihm seinen Bart trimmen zu dürfen. Einmal drängte sie ihm sogar den Tirolerhut ihres verstorbenen Mannes auf, sagt Herrmannsdörfer. Der Gottesmann als Stellvertreter eines Toten auf Erden? Wollte sie ihn ganz für sich haben? Ist sie deshalb so böse über die abgesagte Reha und die Zeit, die das Ehepaar Herrmannsdörfer allein verbringt? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Der Diakon hält es aber für möglich.
Und durch Gespräche mit Beteiligten aller Seiten sowie zahlreiche Dokumente, Fotos, Mails, Briefe und Gerichtsakten, die ZEIT Verbrecheneinsehen konnte, lässt sich diese Schilderung auch verifizieren. Das alles wäre aber kaum mehr als der traurige Ausklang einer innigen Freundschaft, träte nicht jetzt ein dritter Akteur hinzu: die ELKB, die EvangelischLutherische Kirche in Bayern.
Elf Monate nach dem Neujahrsessen wird Georg Herrmannsdörfer vom örtlichen Kirchenvorsteher einberufen. Gemeinsam wollen sie die nächsten Wochen planen: Klinikbesuche, Predigten, Veranstaltungen für Senioren, so etwas – das denkt Herrmannsdörfer jedenfalls. Der Kirchenvorsteher aber hält ihm eine Liste mit sieben Geldbeträgen hin. In Summe gut 43.500 Euro. Dazu weitere Beträge, die sich Herrmannsdörfer nicht erklären kann. Angeblich Bargeldübergaben. Insgesamt geht es plötzlich um einen gut doppelt so hohen Betrag. Den zahle Herrmannsdörfer der armen Frau jetzt mal lieber schnell zurück, sagt der Kirchenvorsteher. Sonst werde es dienstlich.
Isa Wagner hat sich nach dem Streit an den Kirchenvorsteher gewandt und ihm von den Zahlungen berichtet, die keineswegs Geschenke gewesen seien, sondern vielmehr zinslose Darlehen als Dankeschön für die Seelsorge seit dem Tod ihres Mannes. »Freundschaft«? Auf keinen Fall.
Die Kirche formuliert den Verdacht, Herrmannsdörfer habe die Witwe ausgenommen. Das Wort »Disziplinarverfahren« steht im Raum. Im Frühjahr 2014, ein Jahr nach dem großen Krach, wird es offiziell eingeleitet. Die Kirche will prüfen, ob er das Geld im Dienst angenommen hat. Schließlich habe er ja als Seelsorger die Witwe zurück zu Gott geführt.
Kann eine Kirche so argumentieren? Ist es ein missionarischer Dienst, wenn Herrmannsdörfer privat die konfessionslose Isa Wagner zum Glauben zurückführt? Hat tatsächlich alles, was ein Seelsorger tut, einen Dienstbezug?
Im darauffolgenden Winter ist die einstige Wahlfamilie wieder vereint – vor dem Landgericht Passau. Die Witwe hat den Diakon angezeigt. Sie will ihr Geld zurück. Dem Gericht erzählt Herrmannsdörfer die Geschichte von »Mam«, der Witwe, die er in seine Familie aufnimmt. Isa Wagner erzählt dagegen die Geschichte des Mannes, der sie ausnimmt.
Der Richter weist Wagners Klage ab. Erstens wegen des Verwendungszwecks »Freundschaft« auf den Überweisungen. Zweitens gibt die Witwe nachweislich gern und oft Geld: an den Tierschutz, an Hilfsorganisationen. Aber auch an eine weitere Frau, die als Zeugin vor Gericht auftritt und ebenfalls nicht mit der Witwe verwandt ist. Drittens habe Wagner die Zahlungen nie angekündigt und Herrmannsdörfer nie gefragt, ob noch mehr komme. Und viertens hat sie ihm nie gesagt, dass sie das Geld einmal zurückwill. Das sagt sie selbst vor Gericht: Sie sei davon ausgegangen, dass das Geld schon irgendwann zurückkomme.
Aus diesen Gründen sieht es der Richter als erwiesen an, dass die Witwe das Geld freiwillig geschenkt hat. Und zwar – das wird später noch sehr wichtig – an den Privatmann Georg Herrmannsdörfer. Einen Dienstbezug zu seiner Tätigkeit als Klinik- und Kurseelsorger schließt der Richter in Passau aus: Isa Wagner war ja nie Patientin in einer Kureinrichtung oder Klinik. Und abseits seines Dienstes habe natürlich auch ein Seelsorger das Recht, Geld von nahestehenden Menschen zu nehmen, die es ihm geben wollen. So kann man es in der Urteilsbegründung lesen, die ZEIT Verbrechen vorliegt.
Mit dem Urteil im Namen des Volkes könnte diese Geschichte enden. Im Namen des Herrn allerdings fängt sie gerade erst an: Nur wenige Tage nach dem Urteil in Passau stellt die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern den Diakon Herrmannsdörfer vom Dienst frei.
Es beginnt die Phase, in der Georg Herrmannsdörfer mit seinem Glauben hadert. Warum will Gott mich so prüfen?
Am 12. November 2014 steckt die Passauer Woche im Briefkasten des Diakons, eines dieser unscheinbaren Anzeigenblätter, die man gedankenlos wegwirft.
Der Diakon überfliegt die Titelseite. Da steht: »Die Witwe und der gierige Kirchenmann: Seelsorger ließ sich 80.000 Euro schenken«. Georg Herrmannsdörfer sackt noch am Briefkasten zusammen.
Doch es wird noch schlimmer, als er die Wucht der Behauptung begreift. Denn auf der Titelseite gibt die Passauer Woche ihre Auflage selbst mit »über 5 Millionen« an. Wenn das stimmt, steckt an diesem Tag in so gut wie jedem einzelnen Briefkasten Niederbayerns eine Zeitung, auf deren Titelseite Georg Herrmannsdörfer diffamiert wird. Sein Name taucht zwar nicht auf, aber die evangelische Kirche im extrem katholischen Niederbayern ist klein. Wer es wissen will, weiß sofort, wer da gemeint ist.
Herrmannsdörfer sucht sein Glück in der Ferne. Weit weg von Bayern und der evangelischen Landeskirche. Schon zu Beginn des Disziplinarverfahrens hatte er von einer Klinik an der Mecklenburgischen Seenplatte gehört, in Waren an der Müritz, die wohl einen Seelsorger sucht. Das wäre doch was: ein Neuanfang.
Vor dem Bewerbungsgespräch reist er mit seiner Frau früher an, um sich Stadt und Region anzusehen. Es gefällt ihnen dort. Sie können sich vorstellen, hierherzuziehen. In Waren jedoch klingelt sein Telefon. Die Pröpstin ist dran, eine Kirchenfrau, die den Job vermitteln wollte. Es tue ihr leid. Die Klinik sei ausgestiegen. Sie wolle ihn nicht mehr. Der Klinikleiter stamme aus Niederbayern, und, nun ja, der habe sich vor Ort mal umgehört. Aus dem Job werde nichts. Da steht er, der Diakon, tausend Kilometer fern der Heimat und selbst bis hierhin verfolgt von diesem Verfahren.
Er denkt daran, sich als freier Redner für Trauerfeiern und Hochzeiten selbstständig zu machen. Bloß verlöre er dann seine Pension als Kirchenbeamter, die er in Jahrzehnten der Arbeit angesammelt hat, sagt er. Nächste Station: Altersarmut.
Und die Einschläge hören nicht auf. Im Zuge des Disziplinarverfahrens fordert die ELKB ihn hochoffiziell auf, das Geld der Witwe zu übergeben. Doch nicht etwa an Isa Wagner – sondern an die Kirche, »Kontonummer siehe unten, Betreff: Georg Herrmannsdörfer, Az H 4593, Herausgabeverlangen«, wie es im dazugehörigen Dokument der ELKB heißt. Geld, das längst verbraucht ist. Geld, das ihm laut einem eindeutigen Urteil des Landgerichts Passau geschenkt worden war. Die Kirche geht noch immer davon aus, dass er es unrechtmäßig im Dienst angenommen hat – und es daher ihr, als Dienstherrin, zusteht.
Will sich nun die klamme Kirche an ihm bereichern? Missbraucht die ELKB ihr Disziplinarrecht, um an der Entscheidung des weltlichen Gerichts vorbei sich das Geld der Witwe zu besorgen? Auf Anfrage von ZEIT Verbrechen schreibt die ELKB, es gehe »um die Frage, ob eine Amtspflichtverletzung festgestellt werden kann«. Kommt das Kirchengericht in Hannover zu diesem Ergebnis, will die Kirche das Geld haben. Und dann? Will sie es der Witwe zurückgeben? Oder behalten? Diese Frage lässt die ELKB unbeantwortet.
Der Diakon stellt sich immer wieder dieselbe Frage: Wozu prüfst du mich so, Gott? Blättert er durch seine Lokalzeitung, schmerzt es ihn, dass überall Predigten ausfallen, weil einer fehlt, der sie hält. Er selber könnte doch. Er will doch. Aber er darf ja nicht. Es gibt Momente, in denen ihm diese Prüfung übermenschlich vorkommt. Es sind die Momente, in denen er einen Ausweg sucht. Er denkt auch an Suizid. »Aber was dann?«, sagt er heute. »Meine Frau wäre allein, und die Kirche könnte über mich herziehen, wie sie will.«
Überhaupt, seine Frau Martina. Sie fängt ihn auch beruflich auf, seit er nicht mehr für die Kirche arbeiten darf, hat ihn als freien Heilpraktiker in ihrer Praxis aufgenommen. Dort hilft er Schlaflosen dabei, Ruhe zu finden. Tröstet Menschen durch Lebenskrisen und entwöhnt Raucher mittels Hypnose von ihrer Sucht. Gemeinsam therapieren Martina und Georg Herrmannsdörfer andere Paare.
Zurück in den Frühling 2021 in Hannover, zurück in den Gerichtssaal. Die Kirchenanwältin schildert die Sicht der ELKB auf den Fall. Allein der Verdacht der »Erbschleicherei«, so nennt sie es, sei fatal. Schon wer diesen Eindruck erwecke und damit womöglich den Ruf der Kirche schädige, mache sich schuldig. Diakon Herrmannsdörfer, fährt sie weiter fort, hätte selbst den kleinsten Verdacht vermeiden müssen. Nicht die Kirche müsse beweisen, dass Herrmannsdörfer das Geld im Dienst angenommen habe – er solle beweisen, dass er es nicht getan hat.
Das klingt nach: schuldig wegen Nichtbeweises der Unschuld. Eine Umkehr der Beweislast, wie sie im deutschen Recht für derartige Fälle nicht vorgesehen ist. »Das ist doch längst geschehen!«, sagt Georg Herrmannsdörfer im Gerichtssaal. Das Landgericht Passau habe doch geklärt, dass die Witwe ihm das Geld geschenkt hat – und zwar privat, nicht im Dienst! Seine Stimme bricht. Er sei doch niemand, der sich im Amt eine wohltätige Witwe zuführe, um sich an ihr zu bereichern. An den Richter gewandt sagt er: »Wissen Sie, wie schmerzhaft dieser Vorwurf ist?«
Isa Wagner, mittlerweile 85 Jahre alt, ist an diesem Tag nicht nach Hannover gekommen. Man erreicht sie am Telefon in ihrer niederbayerischen Heimat. Sie sagt: »Ich wurde von der Familie Herrmannsdörfer ausgenutzt.«
Nach dem Tod ihres Mannes habe sie sich an den Diakon gewandt, der auf der Trauerfeier so schön Gitarre gespielt habe. Sie habe jemanden zum Reden gebraucht. Das viele Geld sei nur ein Dankeschön für den Kirchenmann gewesen, erklärt Frau Wagner. Dann sagt sie noch, sie habe das Geld gern gegeben, weil sie Herrmannsdörfer helfen wollte. Sie gibt doch, wenn es anderen schlecht geht. »Das ist mein Fehler«, sagt sie. Dieses Helfersyndrom. Sie sagt aber auch, es sei natürlich ein Darlehen gewesen, auch wenn sie es nie so kommuniziert hat.
Als Herrmannsdörfer es nicht zurückzahlte, wandte sie sich an die Kirche und schließlich ans Gericht. Heute sagt sie: »Er darf nicht mehr arbeiten, das habe ich angestoßen. Darüber bin ich froh.« Erst recht, weil Herrmannsdörfer ja schon die »nächste reiche Alte« suche, das habe sie aus dem erweiterten Kirchenumfeld gehört.
Aber da sind doch die liebevollen Briefe, die Fotos von den Familienfeiern, der Kosename »Mam«. Das stimme zwar, sagt Isa Wagner, »gewollt habe ich das aber nie«. Sie habe dem Diakon lediglich gesagt, er könnte ja ihr Sohn sein. Das sei alles gewesen. Und dieses eine Mal bei der Familienfeier von Herrmannsdörfer, »das war das miserabelste Weihnachten aller Zeiten«.
Auch über die rund 43.500 Euro, die die Kirche von Herrmannsdörfer fordert, kann man mit Isa Wagner sprechen. Die Kirche habe ihr »niemals« in Aussicht gestellt, das Geld an sie zurückzugeben. »So wie ich das verstanden habe, will die Kirche das Geld für sich behalten.«
Mittagspause im Gericht, es gibt Penne mit Pesto aus der Kantine. Georg und Martina Herrmannsdörfer ziehen sich mit ihrem Anwalt Michael Dreßler in einen Nebenraum zurück. Der Anwalt hat die beiden über die gesamten sieben Jahre rechtlich begleitet, vor dem Landgericht Passau und dreimal vor kirchlichen Gerichten im Disziplinarverfahren.
Dreßler ist spezialisiert auf Kirchenrecht. Er sagt: »Es gibt seitens der Kirche einen irritierenden Belastungseifer gegen die eigenen Leute.« Herrmannsdörfer sei da nicht das einzige Beispiel, aber durchaus ein besonderes.
Er legt das Besteck zur Seite und hebt beide Hände vor sich, auf gleiche Höhe, jede Handfläche eine Waagschale. Links das Kirchenrecht, rechts das weltliche. Dreßler bewegt die rechte Waagschale nach unten und sagt: »So sollte es sein.« Der Staat wiegt schwerer. Jetzt bewegt er die andere Waagschale nach unten und sagt: »So aber ist es hier.« Die Kirche wiegt schwerer. »Es kann doch nicht sein, dass die Kirche sagt: Uns interessiert das rechtskräftige Urteil eines weltlichen Gerichts nicht«, sagt Dreßler. »Glaubt die ELKB, der Richter in Passau ist durch Handauflegen zu seinem Urteil gekommen?« Die Kirche habe sich im Rahmen des staatlichen Rechts zu bewegen – nicht umgekehrt.
Die Richter in Hannover bitten darum, sich für die Urteilsverkündung zu erheben. Georg Herrmannsdörfer faltet die Hände und schließt die Augen. »Herr, sei gerecht«, habe er in diesem Moment zu sich gesagt, erzählt Herrmannsdörfer später: »Wirke ein Wunder. Wenn es dich gibt, dann zeig dich. Jetzt!«
Das Urteil lautet: kein Amtsmissbrauch. Die Richter sehen es als erwiesen an, dass Herrmannsdörfer keineswegs als Seelsorger im Dienst Geld angenommen hat. Sondern als Privatmann. Die Kirche hat die gesamten Prozesskosten zu tragen und dafür zu sorgen, dass Georg Herrmannsdörfer, der seit sieben Jahren nicht mehr arbeiten darf, rehabilitiert wird.
Die Kirchenanwältin packt fast regungslos ihre Unterlagen ein. Der Diakon weint. Seine Frau ebenso. Beide umarmen ihren Anwalt.
Aus Herrmannsdörfers Aktentasche lugt der rotschwarze Plüschdrache seiner Tochter hervor, den er am Vorabend im Hotel geknetet hat. St. Georg hat den Drachen erlegt.