Vor einem Jahr haben Hunderttausende den Komiker Nico Semsrott ins EU-Parlament gewählt. Seitdem versucht er aus diesem Gag etwas Großes zu machen.
Am 2. Juli 2019, dem ersten Tag der neunten Legislaturperiode, steht Nico Semsrott neben einem Ganzkörper-Milchshake-Kostüm und posiert im Innenhof des Europäischen Parlaments in Straßburg für die Fotografen. In dem Kostüm steckt seine Büroleiterin, darauf steht: „Nigel“. Semsrott hat die Kapuze seines schwarzen Hoodies wie immer über den Kopf gezogen, auch jetzt in seinem neuen Job als Europaabgeordneter der Satireveranstaltung namens Die Partei.
Das Milchshake-Kostüm ist eine Drohung. Sie zielt auf Nigel Farage, Großbritanniens Gesandten für den Brexit, der neulich mit einem Milchshake beworfen wurde und seinen Auftritt vollgesaut abbrechen musste. Ihr rechten Zündler, es gibt Ärger!, will Semsrott damit sagen. Gegenwehr mit Mitteln der Satire. So sieht er seinen Auftrag in Europa. Die Aktion soll der Auftakt werden, geplant ist ein viraler Hit. Immerhin hat Semsrott auf Instagram zu diesem Zeitpunkt 180.000 Follower, nach der Kanzlerin ist er dort der beliebteste deutsche Politiker.
Plötzlich schreitet Nigel Farage, ebenfalls EU-Parlamentarier, tatsächlich durch den Straßburger Innenhof. Semsrott sieht ihn, zögert – und traut sich nicht. Er fürchtet, Farage nicht gewachsen zu sein: „Sein jahrelanges populistisches Rhetoriktraining kann ich nicht an meinem ersten Tag aufholen“, sagt er.
Am Ende bringt die Aktion lausige 15.000 Herzen bei Instagram, gut wären doppelt so viele, mindestens. Was war das jetzt? Ein Flop? Semsrott und seine Büroleiterin einigen sich auf: Testballon.
Nico Semsrott, 34 Jahre alt, das war bis zum vergangenen Sommer der witzige „Demotivationscoach“ aus der heute-show, der in seinem Soloprogramm „Freude ist nur ein Mangel an Information“ vor ausverkauften Häusern über die neuen Nazis schimpfte und über Alte, die den Jungen die Zukunft rauben. Vor allem aber versuchte er darin, der Depression eine lustige Seite abzuringen. Diese Krankheit teilt Nico Semsrott mit seiner Kunstfigur. Um sie herum erfand Semsrott den Hoodie-Comedian mit der monotonen Stimme.
Nach zwölf Jahren als Komiker auf Bühnen zwischen Flensburg und Passau hatte er Ende 2018 genug. Er kandidierte bei der Europawahl für die Satirepartei Die Partei, Listenplatz 2 hinter Martin Sonneborn, dem Parteigründer, der bereits seit fünf Jahren die Absurditäten des politischen Europa seziert. „Für Europa reicht’s“, warben Sonneborn und Semsrott für sich, und tatsächlich: Es reichte.
2,4 Prozent der Deutschen wählten Die Partei. Hätten bei der Europawahl im Mai 2019 ausschließlich unter 30-Jährige abgestimmt, wäre Semsrotts Partei die viertstärkste Kraft geworden, nur zwei Prozentpunkte hinter der SPD. 899.079 Menschen haben Die Partei gewählt, das sind mehr, als in Malta oder Luxemburg leben.
Semsrott genießt als EU-Abgeordneter politische Immunität, einen Chauffeur-Service und 8932 Euro Bruttogehalt, das er „bedingungsloses Grundeinkommen“ nennt. Im Wahlkampf versprach Semsrott: „Ich bin Teil des Realo-Flügels dieser Partei, der mit satirischen Mitteln sehr gute Politik machen will.“
Die ZEIT hat Semsrott ein Jahr lang begleitet, ihn in Hamburg, Berlin, Straßburg, Brüssel und im Internet getroffen. Kann ein deutscher Komiker den europäischen Politikbetrieb verändern? Will er das?
Für Europa hat Semsrott sein bisheriges Leben aufgegeben. Er wird als Abgeordneter „deutlich weniger“ verdienen, sagt er. Er wird Freunde und Familie in Deutschland zurücklassen und tatsächlich nach Brüssel ziehen. Seine Büroleiterin Doris Dialer, die über 13 Jahre EU-Parlaments-Erfahrung verfügt, hat ihm dort eine Wohnung besorgt. Semsrott ist ihr dritter Abgeordneter. In den ersten Tagen scheucht sie ihn zu den Sitzungen seiner Fraktion. Ihren Job sieht sie als Rundumversorgung für den Neuling. „Es gibt die Abgeordneten, die fett werden, und die, die Alkoholiker werden“, sagt sie. Sie klingt, als wolle sie bei Semsrott beides verhindern.
Anders als Martin Sonneborn hat sich Semsrott entschieden, einer Fraktion beizutreten. Er hat sich den Grünen angepriesen: Sie bekämen mit ihm nicht nur einen weiteren Abgeordneten (und mehr Redezeit), sondern eine beispiellose Reichweite in den sozialen Netzwerken.
Er brauche Geld, erzählt Semsrott Anfang Juli 2019 in seinem kargen Straßburger Büro, Raumnummer M04010, mit einem stark bürokratiehaltigen Teppich. Das hat er auch den Grünen so gesagt: Ausschüsse egal – um die mögen die echten Politiker ringen –, aber bitte mehr Geld für Personal. Er will Kameraleute einstellen, Redakteure, Gagschreiber, einen ganzen Stab brauche er, um ein „europäischer John Oliver“ zu werden, ein investigativer Late-Night-Star. „Nico goes international“, nennt er sein Projekt.
Semsrotts Traum ist eine eigene Show aus dem Parlament, wöchentlich, monatlich, mal sehen, was geht. Für seine Videos lässt er jetzt Untertitel anfertigen, später will er auf Englisch moderieren. Sein Publikum sollen nicht mehr nur die Hipster, die Studenten in den Großstädten sein – sondern ganz Europa.
Alle drei Wochen wird er mit seiner Büroleiterin von nun an 450 Kilometer nach Straßburg fahren, zum zweiten Sitz des Parlaments. Neben der sogenannten „Gurkenkrümmungsverordnung“ ist das doppelte Parlament wahrscheinlich das Symbol für die bizarr bürokratische Europäische Union. An einem seiner ersten Abende in Straßburg, Semsrott ist gerade unterwegs zu einem Essen mit dem Büro Sonneborn, kommt ihm dazu eine Idee: Es sei zwar vertraglich festgelegt, dass das EU-Parlament auch in Straßburg tagt. Aber es müsse doch nicht zwangsläufig die Stadt Straßburg gemeint sein. Wie wäre es, spinnt Semsrott vor sich hin, den großen Plenarsaal in Brüssel in Straßburg umzutaufen? Niemand müsste mehr umziehen. Genial, findet er.
Das wäre doch ein Plan.
An einem heißen Tag Ende August treffen sich in einem ehemaligen Krematorium in Berlin-Wedding viele sehr junge, sehr gut gelaunte Menschen, die die Welt verbessern wollen, auf dem ZEIT ONLINE-Festival Z2X. Gegen 10.30 Uhr stellt sich Nico Semsrott auf das rote Kreuz, das seinen Platz auf der Bühne markiert. Wer ihn denn gewählt habe? Etliche Hände gehen hoch. Er hat wenige Notizen auf einem Zettel, wirkt weder besonders gut vorbereitet noch besonders lustig. Aber da das Scheitern sein Programm ist, ist das Publikum begeistert. Vielleicht ist das Semsrotts ganzes Geheimnis: die Unverwundbarkeit seiner Figur, der man alles verzeiht, weil ihre Fehler nur die Konsistenz der Rolle unterstreichen.
Semsrott ist gerade von Hamburg nach Brüssel gezogen. In den Sommerwochen hat er in seiner alten Hamburger Wohnung viel Zeit damit verbracht, bei geschlossenen Vorhängen herumzuliegen oder zehn Jahre alte Notizen auszuwerten, die er etwas manisch an die Wände gepinnt hatte. Eine depressive Verstimmung wird er es nennen. Er hat in Brüssel noch immer keinen Therapeuten. Dafür hat er jetzt ein Team zusammen. Statt Büroleiterin Doris Dialer begleitet ihn heute seine neue Pressesprecherin Isabel Prößdorf. Sie stammt aus dem Odenwald, wirkt handfest und schickt ihn vor seinem Auftritt noch mal aufs Klo.
Sein erster Auftritt im großen Sitzungssaal, jenem Saal, den er eines Tages in Straßburg umtaufen will, liegt hinter Semsrott. Als Ursula von der Leyen Mitte Juli zur Kommissionspräsidentin gewählt wurde, ergriff er das Wort und schälte sich dabei aus seinem Hoodie, darunter trug er einen zweiten, wie bei einem Formel-1-Fahrer beklebt mit Logos der Unternehmensberatungen KPMG, PwC und McKinsey. Jener Firmen, derentwegen die ehemalige Verteidigungsministerin in der „Berateraffäre“ unter Druck stand. Es war eine erste Andeutung dessen, was Semsrott meint, wenn er von „moderner politischer Kommunikation“ spricht. Ein Instagram-Foto von ihm im vollplakatierten Hoodie erreicht in wenigen Stunden Zehn-, vielleicht Hunderttausende seiner Wähler und streut seine Botschaft: Ist von der Leyen nicht vor ihrer Berateraffäre nach Brüssel geflohen?
So gut wie alle deutschen Medien berichten, die alten und die jungen. Von ZDF bis Vice. „Bei der Milchshake-Aktion habe ich mich nicht getraut, die Brexit-Leute zu konfrontieren“, sagt Semsrott. „Bei von der Leyen habe ich mich getraut. Deshalb war es so ein Erfolg.“
Setzt Semsrott seine Kapuze ab, ist er ein viel hellerer Typ, als man erwartet. Man hat das Gefühl, er lacht einen die ganze Zeit an. Er besitzt eine seltsame Mischung aus Sanftheit und Härte. Sanft im Gespräch, bretthart in seinen Positionen. Schlägt etwa einer vor, man müsse „AfD-Wähler abholen“, wird er rigoros. Nötig sei da kein Gespräch, sondern Gegenangriff. Semsrott sagt: „Ich habe das Gefühl, dass die Zivilgesellschaft viel politischer ist als die Parteien.“ Parteienverdrossenheit, nennt er das. Und verweist auf Fridays for Future.
An dem Politsatiriker Nico Semsrott schätzen seine Wähler dessen Aufrichtigkeit und, so ist das wohl: seine Ernsthaftigkeit.
Aufsehen erregte Semsrott im Wahlkampf, als er die Zeit, die ihm für einen Wahlwerbespot zur Verfügung stand, der Organisation Sea-Watch zur Verfügung stellte. Zu sehen war in quälenden 86 Sekunden ein im Mittelmeer ertrinkender Junge. Vorangestellt war dem Film eine Texttafel: „Für den Inhalt dieses Filmes ist ausschließlich die EU verantwortlich.“
Was Nico Semsrott und seine jungen Wähler verbindet, ist etwas, das altmodisch klingt: ein Wertegerüst. Könnte es sein, dass eine Generation, die es gewohnt ist, ihren Helden in „Let’s Play“ genannten Übertragungen beim Computerspielen zuzusehen, die also das Vergnügen delegiert, könnte es sein, dass diese Generation sich nun auch jemanden ausgesucht hat, der stellvertretend für sie ihre Werte hochhält? Noch dazu in einem Parlament, das ihr als weitestgehend korrupt gilt, weil es von vorn bis hinten durchlobbyiert ist, was Sonneborn und Semsrott nicht müde werden zu betonen. Eines seiner YouTube-Videos drehte Semsrott über die Verpflegung auf Brüsseler Lobby-Abenden. Nico Semsrott im EU-Parlament, das wäre eine Art „Let’s Play“ für Moral: ein Aufrechter gegen das System, ein Underdog in den klassischen Maßstäben politischer Macht, dafür mit Hunderttausenden – ja, was eigentlich: Wählern, Fans, Unterstützern?
Es ist wie damals bei Sophies Unterwelt. Als die Schülerzeitung Sophies Welt an ihrem katholischen Gymnasium in Hamburg von der Direktorin zensiert wurde, widersetzten sich die beiden Lehrersöhne Arne und Nico Semsrott und verkauften ihre Gegen-Schülerzeitung, die Unterwelt, aus einem Dixi-Klo vor der Schule: „Wir scheißen auf Zensur“. Medien berichteten, erst in Hamburg, dann in ganz Deutschland. „Ein Selbstwirksamkeitserlebnis vom Feinsten“, nennt Nico Semsrott das heute.
Sein Bruder Arne kämpft inzwischen mit seiner NGO FragDenStaat für Informationsfreiheit und bringt den Verfassungsschutz vor Gericht. Ein „starker Gerechtigkeitssinn“ sei der Antrieb für das, was sie beide machten, sagt er. Ein großer Zorn auch, eine Verzweiflung. Nico habe es schon in der Grundschule ungerecht gefunden, wenn anderen Leid zugefügt wurde: „Daraus erwächst ein hoher moralischer Anspruch“, sagt Arne Semsrott, „an sich und andere.“
Am 18. November 2019 will Nico Semsrott seinen Plan öffentlich machen: die Abschaffung des Doppelparlaments, indem er, Nico Semsrott, den großen Sitzungssaal in Straßburg umtauft. Eine Handvoll Journalisten sind gekommen. Im fensterlosen Raum rauscht die Lüftung, das Licht ist gedimmt. Semsrott sagt: „Das ist die Feierlichkeit, die ich von europäischen Zeremonien gewohnt bin.“
Zur Saaltaufe lässt er sich eine Sektflasche reichen. „Hiermit“, sagt er auf Englisch, „benenne ich diesen Sitzungssaal in Straßburg um.“ Holz splittert, die Flasche zerspringt. Semsrott pinnt ein Post-it mit der Aufschrift „Straßburg“ an die Saaltür, während sein Team die Scherben zusammenfegt. Man könnte sagen: Nico Semsrott hat erste Spuren im Parlament hinterlassen – eine demolierte Holzleiste neben der Tür zum Plenarsaal. Seine Büroleiterin hat aber auch ein Dokument beim Parlamentspräsidenten hinterlegt, das die Sache auf den offiziellen Weg bringen soll.
Am Nachmittag bietet ein junger grüner Fraktionskollege Semsrott spontan sein Fragerecht im Haushaltskontrollausschuss an. Semsrott könne dort doch für seinen Straßburg-Plan werben, immerhin könnte die Abschaffung des Doppelparlaments eine halbe Milliarde Euro einsparen. Semsrott sagt zu.
Aber er geht nicht hin. Ihm sei das Ganze dann doch zu schnell gegangen.
Wie machen wir jetzt weiter mit der Saaltaufe? Am nächsten Morgen hat Isabel Prößdorf das Team zusammengetrommelt. Semsrott beschäftigt drei Praktikanten, die sich um die Produktion der Videos kümmern. Dazu hat er zwei Autoren engagiert, die aussehen, als hätte sich der eine jeweils eine Parodie des anderen ausgedacht: Da ist Jeffrey, Yale-Absolvent, im perfekt gebügelten Hemd, mit zurückgekämmter Mähne. Und Eike mit den zerschlissenen Hosen, der mit drei Äpfeln jonglieren und sie dabei aufessen kann.
„Die Aktion ist ja gut gelaufen“, sagt Jeffrey, „aber was wird jetzt daraus?“ Doris Dialer sagt: „Nico ist der erste Abgeordnete, der das Thema in dieser Legislatur angestoßen hat. Wir haben jetzt den first mover effect.“ Sie bietet an, Mitstreiter zu organisieren. Semsrott überlegt, dann winkt er ab: „Wenn jemand zu uns kommt und reden will, können wir reden. Aber nicht aktiv, das können wir uns sparen.“
Er ist frustriert. Das Drehmaterial vom Vortag ist kaum zu gebrauchen, der Schnitt dauert deshalb ewig. „Nicht mal meine Kernaufgabe kriege ich hin: lustige Videos drehen, die Aufmerksamkeit schaffen. Was soll ich dann parlamentarisch weiterarbeiten?“ Sitzungen der Fraktion und die Ausschüsse schwänzt er jetzt häufiger: „Es macht mich körperlich müde.“
Am erfolgreichsten war Semsrott in den vergangenen Monaten nicht mit einem Video, in dem er den neuen EU-Kommissar für Foresight, Vorhersehung, in einer Sitzung fragte, was er, Semsrott, später zu Abend gegessen haben werde. Am erfolgreichsten war er mit Tweets gegen die CDU in Deutschland, die er auch ohne ein achtköpfiges Team und finanzielle Unterstützung der Grünen problemlos von Kyritz an der Knatter aus hinbekommen hätte.
Und weil niemand so hart mit Nico Semsrott ins Gericht geht wie Nico Semsrott, ärgert das auch niemanden so sehr wie ihn.
Aber er hat ja noch knapp viereinhalb Jahre.
Neuerdings bekommt Semsrott häufiger Besuch von einem Sprachtrainer, einem aufgedrehten Amerikaner, der in Brüssel Abgeordnete unterrichtet. Heute üben sie Konditionalsätze: Was wäre, wenn? Semsrott vervollständigt: „I would have always loved to be courageous and to share ideas with more people.“ Warum habe er das nicht gemacht, will der Lehrer wissen, und Semsrott erzählt von Schwierigkeiten beim Aufstehen, Antriebslosigkeit, Angstzuständen. Er beschreibt die Symptome seiner Depression, ohne das Wort Depression zu benutzen. Und der superhappy Amerikaner findet das wahnsinnig lustig: „You don’t get up because you love to sleep, right? Nice, haha.“
Dabei gehe es ihm besser, sagt Semsrott. Brüssel tue ihm gut. Er sei nicht mehr isoliert wie auf Tour, als er freitagnachts in irgendeinem Provinzhotel saß und an die Freunde in Hamburg dachte. Er ist in ein Team eingebunden und hat einen Tagesablauf von 9 bis 19 Uhr.
Isabel Prößdorf, die sich auch um Semsrotts Mails kümmert, erzählt von den vielen Nachrichten von Menschen, die wie er an Depressionen leiden. Sie beantwortet jede einzelne. „Ich will nicht, dass sich jemand von der Brücke stürzt.“
Wäre das nicht ein Thema für seine politische Arbeit, der Kampf gegen diese Krankheit? Er könnte es machen wie Sarah Wiener, die Fernsehköchin aus Österreich. Sie kam ohne politische Erfahrung ins EU-Parlament, sitzt nun in den Ausschüssen für Landwirtschaft und Verbraucherschutz und hält im großen Plenarsaal Reden, etwa zum Handel mit Geflügelfleisch zwischen der EU und der Ukraine. Im Büro Semsrott wird Ende November eine Initiative zu Depression und mentaler Gesundheit zwar erwogen, dann aber erst mal verschoben. Jetzt müssen Videos gedreht werden, so hat es Semsrott beschlossen.
Sein Wahlkreis, sagt er, sei das Internet. Er guckt sehr genau auf Klickzahlen und Online-Kommentare. Er hat Redeentwürfe zur Abstimmung gestellt. Ausschüsse dagegen nerven ihn. Aber vielleicht erfüllt er damit die Erwartungen seines Wahlkreises: Der schätzt Anti-Nazi-Gags auf Twitter mehr als Sachkack in Aktenordnern.
In seinem Brüsseler Büro, das noch immer wirkt, als hätte er es gestern bezogen, ohne persönliche Gegenstände oder Dekoration, zeigt Semsrott seine neueste Anschaffung: einen Aktenschredder. „Für meine Hoffnungen und Träume.“ Ein Witz. Doch später wird Semsrott sagen, dass er Ende des Jahres ernsthaft darüber nachgedacht habe, ob er nicht einfach hinschmeißen solle.
Allerdings würde dann Lisa Bombe nachrücken. Eine Frau, die nur als Namenswitz auf der Liste der Partei stand. Vor Bennet Krieg und Kevin Göbbels.
Im Februar 2020 sieht es in Semsrotts Büro dann plötzlich aus, als hielten sich dort regelmäßig Menschen auf: An den Wänden hängen ausgedruckte Winkekatzen, in einem Regal liegt wie eine Trophäe der beklebte Hoodie, mit dem er Ursula von der Leyen ärgerte. Auch Semsrott selbst hat sich verändert. Er hat zugenommen, „mindestens zehn Kilo“, schätzt er. Er esse mehr und bewege sich weniger. Manchmal geht in seinem Büro das Licht aus, weil der Bewegungsmelder keine Bewegung mehr meldet – er arbeitet dann im Dunkeln weiter, erzählt er, so 50 Stunden die Woche. Er weiß, es gibt Abgeordnete, die reißen 100 Stunden runter, aber es gebe auch die im niedrigen zweistelligen Stundenbereich. Also findet er: guter Durchschnitt.
Gerade hat Großbritannien die Europäische Union verlassen, und die britischen Abgeordneten sind aus dem EU-Parlament ausgezogen. Zu ihrem Abschied sangen die übrigen Abgeordneten das Volkslied Auld Lang Syne, ein schöner Moment der Solidarität. Semsrott, dem der Brexit vorher „scheißegal“ war, saß auf Platz 729, in der letzten Reihe, und ihm kamen die Tränen, weil es ihm tatsächlich naheging, dass zum ersten Mal ein Land die EU verlässt.
Seine Büroleiterin Doris Dialer ist jetzt weg. Semsrott sagt, sie hätten „unterschiedliche Vorstellungen gehabt, wie ein Abgeordnetenbüro arbeiten soll“. Dialer war eindeutig Team Sachkack.
Semsrott geht jetzt nur noch zu Sitzungen, die sich nicht vermeiden lassen. Er nennt es „eine Last, derer ich mich entledigt habe“. Bei den Plenarabstimmungen, in dem Saal, den er umbenannt hat, folgt er diszipliniert den Abstimmungsempfehlungen der Grünen.
Ihn umgibt eine neue Demut: „Ich habe gelernt, ich kann nicht alles kontrollieren.“ Er akzeptiert, dass das Parlament ein anderes Tempo hat als er. Seit er in Brüssel zur Therapie geht, spürt er weniger Wut und Ärger. Aber: „Das kann sich jederzeit ändern.“
Am Abend schiebt Nico Semsrott ein Flipchart ins „Autorenzimmer“, da sitzt noch immer Jeff, der Yale-Absolvent, und neuerdings Cornelius Oettle, den sie vom Satiremagazin Titanic weggekauft haben. Auf dem Flipchart steht der Sendungsplan für die ersten drei Folgen der Nico-Semsrott-Late-Night-Show aus dem EU-Parlament.
Neulich hat er ein Video hochgeladen, in dem er die fischige Parteienfinanzierung der italienischen 5-Sterne-Bewegung auseinandernimmt, gut recherchiert, unterhaltsam erzählt – „das war europäischer John Oliver“. Selten seit der Anfangseuphorie im vergangenen Sommer wirkte er so angezündet wie in diesem Moment: „Wir können so was herstellen, mit den wenigen Leuten, die wir sind!“ Gerade überlegen die Europäischen Grünen, ob sie die 5-Sterne-Bewegung aufnehmen sollen. Semsrott hat angekündigt, dann die Fraktion zu verlassen.
Auch in Sachen Saaltaufe gibt es einen Erfolg zu vermelden. Das Thema, der ehemaligen Büroleiterin Doris Dialer sei Dank, ist tatsächlich im Petitionsausschuss gelandet.
Der Saal ist nahezu leer, als am 20. Februar um neun Uhr morgens Tagesordnungspunkt 17 aufgerufen wird, Petition 1156. Nico Semsrott erklärt, was man alles mit dem Parlamentsgebäude in Straßburg anstellen könne, wenn der Betrieb komplett nach Brüssel gezogen sei, dank seiner Umbenennung des Plenarsaals in „Straßburg“: eine Loser-Uni einrichten etwa, für alle, die keinen Studienplatz bekommen hätten.
Ein konservativer Bulgare mahnt an, dass dafür die Europäischen Verträge geändert werden müssten. Eine belgische Liberale findet den Vorschlag großartig. Zum Schluss sagt die lettische Vizevorsitzende des Ausschusses, sie wolle die Petition weiterleiten, Semsrott aber auch daran erinnern, „dass er kein Patent auf diese Idee hat“. Der Erste war ein schottischer Abgeordneter, der vor mehr als zehn Jahren exakt dieselbe Idee vorstellte – ohne Erfolg, klar. Das Video, das Semsrott anschließend zum Auftritt im Ausschuss hochlädt, ist eines der erfolgreichsten, seit er Abgeordneter ist.
Die Bilanz des ersten Jahres Brüssel: drei Reden im Parlament, 453 Tweets, zwölf Videos auf YouTube und eine Petition, die sehr wahrscheinlich scheitern wird. Die Premiere für die Nico-Semsrott-Show: auf unbestimmte Zeit verschoben, wegen des Coronavirus. Das Parlamentsgebäude in Straßburg ist unterdessen tatsächlich einem neuen Zweck zugeführt worden: Es wurde zum provisorischen Corona-Testzentrum.