Bevor er in Ungnade fiel, war er der Glaubenshüter des Vatikans. Heute lässt sich Gerhard Ludwig Müller als „Donald Trump des Katholizismus“ feiern. Ist es das, was einem Machtmenschen bleibt, sobald man ihm die Macht nimmt?
Zum Abschluss seiner Tournee segnet der Mann, der einst Roms Hüter der reinen Lehre war, die Gläubigen in einer schnöden Multifunktionshalle in Wattenscheid. Im fahlen Licht der blauen LED-Strahler hebt er an: »Der Herr sei mit euch.« An seiner Seite auf der Bühne kniet: Gloria von Thurn und Taxis, die erzkonservative Fürstin und Promikatholikin. »Und mit deinem Geiste«, antwortet sie und mit ihr die gut einhundert ebenfalls knienden Menschen im Saal. Sie alle haben 15 Euro bezahlt, um live zu erleben, was der Mann über den Zustand der Kirche zu sagen hat: Gerhard Ludwig Kardinal Müller, 72 Jahre alt, ehemals Präfekt der mächtigen Glaubenskongregation.
Es ist November 2019. Kardinal Müller hat Rom verlassen, um Nordrhein-Westfalen zu besuchen: Bochum, Mönchengladbach und an diesem Abend der Abschluss in Wattenscheid. Die Veranstaltungen mit ihm tragen wuchtige Titel: »Wege zum Glauben« und »Quo vadis, Kirche?«. Die ganze Tournee ist auch eine Botschaft: Ich bin noch da. Für euch. Und ich werde keine Ruhe geben angesichts dessen, was im Vatikan passiert.
Dort standen über Müller einmal nur Gott und dessen Stellvertreter auf Erden: Der eine, Papst Benedikt XVI., holte ihn 2012 als Präfekt nach Rom. Und der andere, Papst Franziskus, demütigte ihn. So wirkte es zumindest, als Müllers Vertrag im Juli 2017 nach fünf Dienstjahren fristgerecht endete und Franziskus einen der Seinen als neuen Präfekten installierte.
Von einem Tag auf den nächsten zerbröselte, was Müller sich in einem ganzen Leben für den Glauben aufgebaut hatte. Seine Macht war dahin. Zwar bleibt er weiterhin Kardinal, aber davon gibt es in Rom 223. Für Müller muss es sich wie eine persönliche Beleidigung angefühlt haben. Besonders, weil Franziskus ihm nicht mal ein anderes Amt angeboten hat. Ein offizielle Aufgabe in der Kurie hat Müller heute nicht mehr. Er gibt die gesammelten Schriften Joseph Ratzingers heraus und wohnt in dessen alter Wohnung. Das war es.
Machtmenschen, die aus ihrem System stürzen – sei es Kirche, Wirtschaft oder Politik –, fallen immer tief. Und hart. Es gibt Geschasste, die daraufhin erst mal abtauchen. Manche kehren zurück, tragen dann Vollbart, verzichten auf die Krawatte und lassen sich für glamouröse Bankette als Redner buchen, wo sie erzählen, dass sie in der Krise verstanden hätten, was wirklich zählt. Das sind diejenigen, die ihren Frieden mit dem Sturz machen.
Aber es gibt auch die, denen Machtentzug nicht bekommt. Die Rache wollen, wenigstens Genugtuung, und sich neue Verbündete suchen, um einen Kampf weiterzukämpfen, den sie längst verloren haben. Wer beobachtete, was Müller in den vergangenen Monaten von sich gab oder mit wem er sich während der Vortragsreise durch Nordrhein-Westfalen zeigte, der konnte den Eindruck gewinnen: Dem Kardinal geht es um vor allem um Genugtuung.
Schon länger schwelt im Vatikan ein Lagerkampf: die Benedikt-Anhänger gegen die Franziskus-Treuen. Es war ein Stellvertreterkampf. Geführt durch Männer wie Müller, der vor und erst recht seit seiner Entmachtung keine Gelegenheit ausgelassen hat, gegen den aktuellen Papst zu stänkern.
Mittlerweile zeigen sich die Konfliktlinien offener. Es begann mit der Amazonas-Synode im Oktober 2019, auf der vieles besprochen wurde und doch nur ein Thema richtig interessierte: Soll es Ausnahmen geben für den Zölibat? Aus Sicht der Benedikt-Anhänger wird da etwas angefasst, was nicht angefasst werden darf – wie so vieles, seit Franziskus im Amt ist. Einer seiner Kritiker, der konservative Kurienkardinal Robert Sarah aus Guinea, hat deshalb kürzlich ein Buch geschrieben. »Aus der Tiefe des Herzens« heißt es und erscheint in dieser Woche. Ein Kapitel darin verfasste höchstpersönlich: Benedikt XVI. Darin wird vor »schlechten Einlassungen, Theatralik, diabolischen Lügen und im Trend liegenden Irrtümern« gewarnt, die »den priesterlichen Zölibat entwerten wollen«. Für Beobachter konnte es so aussehen, als maßregelte Benedikt XVI. seinen Nachfolger.
Wenigstens über Bande. Und mit nachträglichen Beschwichtigungen: Benedikt XVI. hat unlängst seinen Namen vom Cover des Sarah-Buches tilgen lassen – Mitautor sei er nun wirklich nicht, aber zum Inhalt des einen Kapitels stehe er weiterhin. Kardinal Müller teilte mit, Benedikt XVI. sei nun einmal emeritierter Bischof – und somit dürfe er sich in die Lehre der Kirche einmischen. Dabei hatte der Papa emeritus einst versprochen hatte, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen.
Ein Tabuwort wird wieder geflüstert in Rom: Schisma. Derweil bereiten sich die deutschen Bischöfe darauf vor, im Frankfurter Bartholomäusdom zum Synodalen Weg zusammenzukommen, um mit den Laien über den richtigen Weg aus der Krise der Kirche zu beraten. Das Flüstern aus Rom wird sie begleiten auf ihrem Weg. Und auch in der Multifunktionshalle in Wattenscheid steht das Tabuwort unausgesprochen im Raum.
Zwei Stunden bevor Müller dort den Segen sprechen wird, ordern die Gläubigen am Tresen noch schnell ein paar Pils. Eigentlich hatte die Veranstaltung in der St.-Elisabeth-Kirche in Bochum stattfinden sollen. Doch David Ringel, Kirchenvorstand der Pfarrei, untersagte die Nutzung der Kirche, als er von den 15 Euro Eintritt hörte: »Ich lasse nicht zu, dass ein Kirchraum zum Geldmachen benutzt wird«, sagt er am Vormittag der Veranstaltung am Telefon. Er ist genervt, er sei übergangen worden, habe davon nichts gewusst und jetzt stapeln sich auch noch die kritischen Mails in seinem Posteingang: Die Konservativen mosern, dass er die Veranstaltung absagt. Die Progressiven darüber, wie er sie habe zulassen können.
Vor der Bühne justiert ein Mann eine Filmkamera. Er trägt eine Weste, die ihn als Mitarbeiter von kath.net kennzeichnet, jenem Portal, das zwischen ultrakonservativem Katholizismus und offenem Rechtspopulismus changiert und später einen Mitschnitt des Abends ins Netz stellt. Die Veranstaltung ist ausverkauft, eilig werden noch ein paar Stuhlreihen aufgebaut, damit alle einen Platz finden. Die Bühnentür öffnet sich, heraus treten Fürstin Gloria von Thurn und Taxis, dazu die Moderatorin des Abends und Kardinal Müller, der den Applaus sichtlich genießt. Die Gläubigen wirken wie Fans, die einen Popstar begrüßen. Nur eben einen in Robe und der Kappe in Kardinalspurpur. Es sieht nach einem Start-Ziel-Sieg aus: Müller im Kreise derer, die ihn mögen und schätzen. Was soll da schiefgehen?
Die Moderatorin, eine Journalistin der benedikttreuen »Tagespost«, stellt ihren Stargast vor: »renommiert«, »profiliert«, Bischof, Kardinal und Ex-Präfekt. Sie liest jedes Wort ab, als wäre es ihr in diesem Kontext neu.
Mit der ersten Frage schickt sie Müller erst mal über den Globus: »Sie waren lange in Peru, was können wir von den Armen lernen?« Müller erzählt, wie er der südamerikanischen Befreiungstheologie begegnet sei und sie verinnerlicht habe. Bevor auch nur der Verdacht aufkommt, Müller sei womöglich im Herzen noch immer der Linke, als der er einst bezeichnet wurde, stellt er klar: »Diese Befreiung ist kein Marxismus, sondern die Zurückweisung dessen!«
Von Fürstin Gloria möchte die Moderatorin wissen, was sie am »Glauben der Afrikaner« bewundere. »Beim Afrikaner ist es doch so …«, startet die Fürstin. Nur zur Erinnerung: Es handelt sich um genau jene Fürstin Gloria, die im Jahr 2001 in einer Talk-Sendung sagte, Afrika habe ein Aids-Problem, »weil der Schwarze gerne schnackselt«. Jedenfalls, der Afrikaner, wie ihn sich Fürstin Gloria vorstellt, der kenne das Christentum erst seit einigen Jahrzehnten und sei ja brav und gebe sich Mühe, die Sakramente anzunehmen. Aber dieser Voodoo-Glaube, der mache alles kaputt. In den vorderen Reihen Endlich-sagt’s-mal-eine-Gejohle. Hinten sitzen die Menschen auf der Stuhlkante und kneifen die Augen derart zusammen, als hofften sie, das könnte auch beim Hören helfen.
Im Hintergrund kämpft ein Mann mit der Saaltechnik. Das ist Sascha Hellen, der Organisator von Müllers Tournee. Hellen ist ein Mann, dessen Geschäft es ist, Prominente zu kennen und sie für Preisverleihungen, Gesprächsrunden oder private Treffen zu vermitteln. Allein in der Woche vor Redaktionsschluss traf er: einen Milliardär, einen Magier, einen ehemaligen Premierminister und die indische Botschafterin in Berlin. Sein Leben dokumentiert Hellen auf Instagram. Einmal im Jahr richtet er in Nordrhein-Westfalen den Steiger-Award aus, einen Charity-Preis, den er an Prominente vergibt, die zusagen: Silvia von Schweden, Boris Becker und Franz Beckenbauer, der verstorbene Friedensnobelpreisträger Schimon Peres oder der gleichfalls verstorbene Sänger Lou Reed.
Zum Verhängnis wurde Hellen, als er begann, mehr zu versprechen, als er liefern konnte. Im April 2019 verurteilte ihn das Bochumer Landgericht wegen Betrugs und Untreue zu zwei Jahren Haft auf Bewährung. Er soll einem Mann aus Luxemburg eine Audienz beim Dalai Lama in Aussicht gestellt haben, dafür wollte er 25.000 Euro. Das Treffen kam nie zustande, die Anzahlung von 15.000 Euro sah der Luxemburger nie wieder. Und dann waren da noch die 800.000 Euro, die Hellen sich von Geschäftspartnern lieh – und nie zurückzahlte. »Mir ist alles über den Kopf gewachsen«, sagte er damals den Richtern. Eineinhalb Jahre später koordinierte Hellen Müllers Reise durch Nordrhein-Westfalen. Sein Büro schreibt später per Mail, nicht als Müllers »Organisationsbüro« zu agieren.
Hellen dreht an Knöpfen herum, will wohl eigentlich nur die Lautstärke etwas erhöhen, verursacht dabei eine Rückkopplung, die sich immer mehr verstärkt, bis sie ohrenbetäubend die Veranstaltung sabotiert. Während die Rückkopplung in den Bereich des Nicht-Hörbaren weiterechot, sorgt Fürstin Gloria weiter für schrille Töne. Die Moderatorin scheint zu spüren, was das Publikum an diesem Abend will. Thema Islam: Die »Mohammedaner«, sagt die Fürstin, sollten erst mal aufhören, ihre Frauen zu schlagen, und schleunigst zum Christentum übertreten. Ein Mann im Publikum springt auf: »Jawohl, so isses!«
Thema Amazonas-Synode im vergangenen Oktober und die Frage, ob man Frauen zum Diakonat zulassen solle. Die Fürstin sagt: »Solange in der Nationalmannschaft nur Männer spielen und bei der Queen nur Männer bedienen, sage ich: Lasst uns in der Kirche in Ruhe!« Kardinal Müller sitzt mit präsidialem Gleichmut zwischen den beiden Frauen. Er grätscht nicht hinein, er widerspricht nicht. Wird er doch einmal gefragt, braucht er viele Worte, um wenig zu sagen. Und sicher nichts, was ein Publikum bewegt, das vom Dauerfeuer der Fürstin angeheizt ist. So verzwergt Müller im Verlauf des Abends zum Nebendarsteller auf seiner eigenen Bühne. Erst bei der Segnung im Licht der blauen LED-Strahler steht wieder Müller im Mittelpunkt. Standesgemäß kniet die Fürstin vor ihrem Kardinal.
Mächtige suchen den Zuspruch derjenigen, die ihnen folgen. Alle Macht ist nichts ohne die, die sie anerkennen. Mächtige schmücken sich gern mit anderen, mit Jüngeren, Schöneren, Glamourösen. Angesichts dieses Abends in Wattenscheid weiß man nicht – wer schmückt sich mit wem: der Kardinal mit der Fürstin? Oder vielmehr umgekehrt?
Papst Benedikt XVI. berief Müller im Juli 2012 zum Präfekten der mächtigen Glaubenskongregation, ein Posten, den Joseph Ratzinger selbst zwischen 1981 und 2005 innehatte. Es war der Höhepunkt von Müllers Leben, die Krönung einer Bilderbuchkarriere im Namen des Glaubens: Als Professor in München erarbeitete er sich den Ruf als geschätzter Theologe und schrieb ein Standardwerk über die katholische Dogmatik. Im Jahr 2002 ernannte ihn Papst Johannes Paul II. zum Bischof von Regensburg.
Als Müller ging, versammelten sich 5000 Gläubige in Regensburg, um ihn zu verabschieden. Der damalige Ministerpräsident Horst Seehofer gratulierte und war glücklich, denn nach Benedikt XVI. war nun auch die Nummer zwei im Vatikan ein Bayer. Und die in Regensburg residierende Fürstin Gloria sagte im Bayerischen Rundfunk: »Wer ihn liebt, der gönnt ihm diesen Sprung nach Rom an die Seite des Papstes.«
Ein halbes Jahr später passierte im Vatikan etwas, was nicht passieren darf: Der Papst dankte ab. Benedikt XVI. war alters- und amtsmüde. Der Vatikan verlor sein Oberhaupt, Präfekt Müller seinen großen Fürsprecher, seinen Verbündeten. Als Franziskus zum neuen Papst ernannt wurde, bestätigte er Müller als Präfekten. Mehr noch: Er machte ihn zum Kardinal. Noch deutete wenig darauf hin, dass die beiden einmal Gegenspieler werden würden. Es war Müller, der in den kommenden Monaten den Bruch provozieren sollte.
Im September 2015 zum Beispiel, als ihn Fürstin Gloria auf ihr Schloss in Regensburg einlud, um gemeinsam das Buch »Gott oder nichts« von Robert Sarah zu präsentieren, jenem Kardinal, aus dessen jüngst erschienenem Buch Benedikts XVI. kritisches Kapitel über die Aufweichung des Zölibats stammt. Müller kritisierte in Regensburg offen die Deutsche Bischofskonferenz, die zuvor für die Akzeptanz von Homosexuellen in der Kirche geworben hatte.
Im Frühjahr des darauffolgenden Jahres veröffentlichte Papst Franziskus sein Lehrschreiben »Amoris laetitia« inklusive der berühmten Fußnote 351: Die ließ sich so lesen, als räume der Papst den nationalen Bischofskonferenzen weitreichende Spielräume ein – so weitreichend, dass sie autark über die Kommunion von Wiederverheirateten entscheiden könnten. Präfekt Müller soll vor der Veröffentlichung Änderungswünsche am Manuskript geäußert haben, Franziskus ignorierte sie.
Wenn sich in einer Partnerschaft zwei streiten, ist es manchmal wie Boxen: eins gegen eins, hier und jetzt, Waffengleichheit. Da gibt es blutige Nasen, am Ende gewinnt einer. Wenn es gut läuft, tut er es fair, und wenn es bestens läuft, versöhnt er sich anschließend mit dem Verlierer. Streiten sich zwei im obersten Zirkel der Macht, geht es darum, dem anderen vom Publikum möglichst unbemerkt Tiefschläge zu verpassen und dabei das eigene Gesicht zu wahren. Ein weiteres Beispiel: Im Sommer 2016 kündigte Franziskus an, die Zulassung von Frauen zum Diakonenamt prüfen zu lassen – obwohl Präfekt Müller dies ausgeschlossen hatte. Der Präfekt war düpiert, Franziskus konnte sich keinen direkten Angriff vorwerfen lassen.
Im September 2016 reiste Müller erneut nach Regensburg, diesmal zum zehnjährigen Jubiläum des Papstbesuchs von Benedikt XVI. Im Regensburger Domforum erinnerte Müller an die wegweisenden Worte des damaligen Papstes, er war ja damals dabei, als Bischof. Diese kleine Verbeugung hätte ihm sicherlich niemand übel genommen, hätte Benedikt XVI. auf, nun ja, natürliche Weise das Amt verlassen – durch den Tod. Einer wie Müller, der weiß, wie Macht funktioniert, weiß auch, dass es so wirken musste, als lobte da einer den Vorgänger, um sich am aktuellen Chef zu revanchieren. Einen Tag später stellt Müller wieder ein Buch auf dem Schloss der Fürstin vor, diesmal sein eigenes: »Die Botschaft der Hoffnung«. Das Cover zeigt Franziskus und seinen Präfekten in trauter Einheit – zu diesem Zeitpunkt längst eine Fassade.
Ein geschlossenes Machtsystem wie die katholische Kirche hat nur ein bestimmtes Fassungsvermögen, gerade an der Spitze. Es ist wie in einer einspurigen Straße, auf der sich zwei Autos entgegenkommen. Beide Fahrer sehen sich im Recht. Der eine tritt aufs Gas, der andere will nicht bremsen. Man sieht einem Crash beim Entstehen zu.
Als schon klar war, dass Franziskus zu einer Feier zum 500. Jahrestag der Reformation nach Schweden reisen würde, verfügte Präfekt Müller: Die Reformation sei der Beginn einer Kirchenspaltung gewesen und somit kein Grund zum Feiern. Dass Franziskus daraufhin drei Müller-treue Mitarbeiter der Glaubenskongregation feuerte, durfte man als letzte Warnung interpretieren.
Im Sommer 2017 schlug es gleich zweimal bei Müller ein. Zunächst endete abrupt seine Zeit als Präfekt. Hinzu kam, dass Müller nach der Veröffentlichung des Abschlussberichts zum Missbrauch bei den Regensburger Domspatzen angegriffen wurde, er habe nicht alles ihm Mögliche getan, um den Missbrauch aufzudecken. Sofort meldete sich Gloria in der Öffentlichkeit, nahm ihren Kardinal in Schutz und nannte es »richtig gemein«, wie jetzt gegen ihren Vertrauten vorgegangen werde.
Man sagt, man müsse einem Menschen Macht geben, um zu erkennen, wer er wirklich sei. Vielleicht ist das nur die halbe Wahrheit. Vielleicht erkennt man den Kern eines Menschen erst, wenn man ihm die Macht wieder wegnimmt. Bleibt da einer, der das Bisherige reflektiert, stolz zurückblickt und die Füße hochlegt, während er nebenbei in Büchern und Vorträgen das eigene Lebenswerk veredelt? Oder bleibt einer zurück, der hadert? Der Verrat fühlt und den es wurmt, weil das Schweigen des Telefons nach Scheitern klingt. Einer, der sich umso mehr an die hält, die trotz der Krise bei ihm bleiben.
Im September 2018 machten Fürstin Gloria und Kardinal Müller eine Reise in die USA. Gemeinsam nahmen an einem Treffen konservativer Christen in Washington teil. Am Rand der Veranstaltungen sollen die beiden Steve Bannon, den globalen Architekten der Neuen Rechten und ehemaligen Chefberater von US-Präsident Donald Trump, getroffen haben. Angeblich ging es darum, ob Bannon das Schloss der Fürstin als Konferenzort nutzen könne. Das erzählte Fürstin Gloria stolz der »New York Times«. Der Kardinal dementierte damals ein gemeinsames Treffen mit Bannon in den USA. Eine Anfrage für ein Gespräch mit Christ&Welt beantwortet sein Privatsekretär zwar freundlich, Müller sei gern zu einem Gespräch bereit. Ein Termin kommt allerdings nie zustande.
Macht lässt Menschen bisweilen zu übergroßen Projektionen wachsen, für Bewunderung, für Hass. Für alles dazwischen. Wenn Journalisten über Machtmenschen schreiben, über Wirtschaftsbosse oder Oberkleriker, steht in der Überschrift oft: Der Visionär. Der Retter. Es sind Titel wie Actionfilme – oder wenigstens existenzielle Heldengeschichten. Auch über Müller gibt es diese Überschriften: Der Hardliner. Der Scharfmacher. Der Gegenpapst. Fragt man in diesen Wochen Menschen, die Müllers Weg seit seinem Ende als Präfekt in Rom beobachten, hört man auch: Müller, der Phlegmatiker. Einer, der sich lenken lässt, nicht zuletzt von der umtriebigen Fürstin Gloria. Oder: Müller, der Telefonbuch-Dogmatiker, der zwar alles weiß und bei Bedarf herunterbeten kann – aber wenig daraus erschafft.
Einer, dem diese Zuschreibungen, die Projektionen über Müller zu einfach sind, ist Nikodemus Schnabel, ein eloquenter wie progressiver Benediktinermönch. Weil Schnabel gern redet und das Glück hat, dass Menschen es mögen, wenn er erzählt, dreht er Dokumentarfilme mit Markus Lanz und hat eine eigene Gesprächsreihe: die Nikodemus-Gespräche, bei denen er Prominente auf deutschen Bühnen interviewt. Organisiert werden diese Gespräche über Promi-Vermittler Sascha Hellen. Einen Tag vor der schrillen Veranstaltung kommen also Schnabel und Müller in der Pfarrkirche St. Franziskus in Mönchengladbach zusammen.
Vor der Veranstaltung sagt Schnabel, er beobachte mit einer gewissen Skepsis, was Müller gerade treibe. »Ich kann mit Müllers Weltbild zunehmend weniger anfangen.« Deshalb redet er ja mit ihm und nicht über ihn. Dennoch hat er sich vorgenommen, heute nicht nur die »immergleichen Platten« aufzulegen: Homosexualität, den Missbrauch in der katholischen Kirche, den Zölibat, die Amazonas-Synode. Vor allem will er mit Müller »in die Tiefe gehen«. Was ist es im Kern, was Müller glaubt? Wer ist Müller eigentlich – und was ist nur Projektion?
In der Kirche ist recht wenig los, gut 50 Menschen haben sich auf den kargen Bänken verteilt, es ist so kalt, dass einige ihre Schals enger ziehen. Schnabel möchte wissen, ob Müller Zweifel im Glauben kenne, ein Ringen mit Gott? Müller erzählt von seiner Kindheit, als er mit seiner Tante religiöse Hefte an die Nachbarschaft verteilte und in den Wohnzimmern die Fotos der Gefallenen sah. Er erzählt von Zweifeln, wenn er den Fernseher anschalte, wenn er Kriege sehe und »dass es Menschen sind, die Menschen das Schlimmste antun«. Doch das Gespräch entgleitet in dem Moment, als Schnabel versucht, Müller in die Gegenwart zu zerren. Wenn Schnabel nach Deutschland Ende 2019 fragt, nach der Gegenwart, antwortet Müller mit Byzanz, mit Babel. Müller doziert, er spannt den ganz großen Bogen der Kirchengeschichte von Augustinus von Hippo zu Thomas von Aquin. Je mehr Schnabel konkret Gebrauchshinweise aus dem Glauben für den Alltag ableiten will, desto mehr transzendiert Müller.
Schnabel spricht von Entfremdung der Menschen zur Kirche. Von Kopfschütteln, das er in Berlin erlebe, wenn Leute mitbekämen, wie heute, im Jahr 2019, in der katholischen Kirche über Sex gesprochen wird: Wer darf was mit wem und wer nicht? Müller kontert: »Wenn wir in das Alte Testament schauen, haben wir das Problem nicht.«
Nach einer Stunde laben sich manche im Publikum derart an Müllers Worten, dass sie sogar seit einigen Minuten die Augen geschlossen haben. Womöglich, um den Vortrag zu genießen, frei von irdischen Ablenkungen. Womöglich sind sie einfach eingenickt.
Schnabel spricht von der »Ikone Müller«. Gerne werde die mit »einer Person der Zeitgeschichte« genannt, mit der er, Schnabel, nicht in Verbindung gebracht werden möchte. »Wer denn zum Beispiel?«, brüllt einer aus dem Publikum. Schnabel übergeht das. Jeder weiß, wen er meint: Fürstin Gloria. Die hat neulich im Bayerischen Rundfunk gesagt: »Die einzigen beiden Menschen auf der Welt, die uns heute Klarheit geben, sind Donald Trump und Gerhard Ludwig Müller. Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass Gerhard Ludwig Müller der Donald Trump der katholischen Kirche ist.« Was er davon hält, will Schnabel vom Kardinal wissen. »Man kann sich schwer wehren, eine Projektionsfläche zu sein«, sagt der. Er nennt den Vergleich eine Sichtverengung. Aber er distanziert sich nicht. Lieber lobt er Trump, weil der immerhin ein Politiker sei, der sich für den Schutz des ungeborenen Lebens einsetze.
Müller signiert nach Ende der Veranstaltung noch Bücher, darunter sein neuestes: »Römische Begegnungen«. Müller blickt darin auf die Stadt seines Glaubens. Das Buch ist liebevoll, wenn er über den Cappuccino an der Via della Conciliazione mit Blick auf den Petersdom schreibt. Es ist bitter, wenn er schreibt: »In Rom wird ein Kardinal taxiert nach seinem politischen Marktwert am päpstlichen Hof. Theologische Kompetenz gilt wenig und wird mit der Karikatur vom Gelehrten im Elfenbeinturm neutralisiert.« Oder: »Die Kirche ist kein Unternehmen, das etwas verkaufen will und von der Produktion von Fahrrädern gestern auf Sportwagen von heute umsteigt.«
Zurück in der Pfarrkirche St. Franziskus schießen die Gläubigen noch Erinnerungsfotos mit dem Kardinal, manche fragen sogar nach einem Selfie. Plötzlich kniet ein Mann vor Müller. »Eure Exzellenz!«, sagt er und küsst ihm die Hand. Er kommt aus einer Nachbargemeinde, sagt er, und dass er sich gewünscht hätte, Müller hätte was zur Amazonas-Synode gesagt und zur möglichen Aufweichung des Zölibats für Priester. Wie solle er da reagieren, als einfacher Gläubiger und Familienvater? Man merkt: Da sehnt sich wirklich jemand nach der Weisheit des Kardinals.
Aber was soll Müller dazu schon sagen? Im Jahr 1992 hatte er schließlich selbst empfohlen, in »schwer erreichbaren Gegenden oder in städtischen Massenpfarreien religiös ausgewiesenen und theologisch ausgebildeten Familienvätern die Priesterweihe zu spenden«. Müller mag es sich mit den Oberen im Vatikan verscherzt haben, er mag sich selbst um Macht und Einfluss gebracht haben. Er kann jetzt nicht auch seine letzten Fans vergraulen.