Wurst is my Religion (REPORTAGEN, August 2015)

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Reportage

Wenn Trabis mit Würsten dekoriert werden, beginnt im Holzhausen der Bratwurst-Songcontest. Er feiert ein Kulturgut und die eigene Identität.

Kurz bevor es zu Ende ist, wird es zum ersten Mal völlig ruhig in der Scheune. An den Bierbankgarnituren mit Rücklehne und grünen Bezügen schweigen die Kinder und Rentner. Ein Mann flüstert an der Bar die Bestellung und hält Daumen, Zeige- und Mittelfinger hoch. Der Moderator klettert auf die Bühne, die vom Neonlicht angestrahlt wird.

In ein paar Momenten endet der siebte jährliche Songcontest des Deutschen Bratwurstmuseums Holzhausen, Thüringen. Zuvor haben elf Bands die Thüringer Bratwurst besungen, verehrt und sogar angebetet. Die Favoriten und Vorjahressieger, die Rossbachlerchen aus dem Nachbardorf, haben sich an ihrem Tisch neben der Bühne versammelt. Berthold, Siggi und Gunther tippen auf ihre Bierbecher. Aushilfsdrummer Schöni macht einen Trommelwirbel auf der Tischkante. Horst Hossfeld, der langjährige Frontmann, kreuzt die Arme. Gitarrist Ralle und Steffi, noch immer im Kostüm als irische Jungfer mit Karorock, fixieren den Moderator. Der drückt auf seinem schnurlosen Mikrofon herum, um zu überprüfen, ob es angeschaltet ist: «Gewonnen hat die Band, die uns heute am meisten gerockt hat!»

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Sechs Wochen zuvor sitzt Horst Hossfeld allein an seinem Küchentisch und zählt. Aus seinem Kofferradio kommt immer wieder Whiskey in the Jar in der Version der norddeutschen Shantyband Santiano. Hossfeld zählt die Zeilen und Silben ab, notiert Hebungen, Senkungen und Akzente. Sechs, sieben, acht Zeilen pro Strophe, jeweils sieben Silben. Hossfeld schreibt einen Song über ein Kulturgut: die Thüringer Rostbratwurst. Seine Band, die Rossbachlerchen, nimmt in diesem Jahr zum fünften Mal am Songcontest teil. Thüringen ist zwar die Heimat von Goethe, Schiller, Bach und dem Bauhaus. Heute aber bestimmt etwas anderes das Bild in und zwischen Erfurt, Weimar, Jena und Gera: die Bratwurstbude. An jedem Bahnhof findet man sie, an jeder zweiten Autobahnraststätte, neben Bushaltestellen und auf Marktplätzen. 40 000 Tonnen Bratwurst mit dem Gütesiegel «Thüringer» werden jährlich hergestellt. 350 Millionen Würste. Wer Songschreiber Horst Hossfeld trifft, erlebt einen charismatischen Mann Ende sechzig. Über vierzig Jahre war er Frontmann der Rossbachlerchen, trat lange im weissen Hemd, in knallbunter, mit schwarzen Sternen verzierter Weste und Zylinder auf. Heute liefert er der Band noch die Texte. Jedes Jahr nimmt er die Eröffnung des Kölner Karnevals auf und schaut sich die Aufzeichnung an. In der Regel sei immer etwas dabei, das sich auf die Bratwurst umdichten liesse. Whiskey in the Jar jedoch hat ihm seine Band vorgeschlagen.

Horst Hossfeld sucht vor seiner Boombox nach einem Thema, einem Leitmotiv für den Text. Er startet das Lied immer wieder von vorne, hört es Dutzende Male. Hossfeld sagt, zuerst müsse der Refrain stehen, der Rest entwickle sich von dort aus. Dann – zack! Aus «Mush-a ring dum-a do dum-a da /

Whack for my daddy-o /

Whack for my daddy-o/

There’s whiskey in the jar» wird:

«Hier gibt es Bratwürste vom Rost

Welch wundervolle Kost /

Welch wundervolle Kost /

Bratwürste nur vom Rost.»

Die erste schriftliche Erwähnung der Bratwurst findet sich in Homers Odyssee. Hier setzt Antinoos, einer von Penelopes Freiern, einen Preis für einen Faustkampf zwischen Odysseus in Bettlergestalt und Iros, dem Stammclochard von Ithaka, aus: Der Sieger möge freien Zugang zum Grill erhalten, auf dem gebratene Würste liegen. In der frühen Neuzeit ist die Bratwurst eine Delikatesse, die sich nur Klerus und Adel leisten können. Ärmere Thüringer müssen sich mit den traditionellen Herbstschlachtfesten begnügen oder Feiertage wie Weihnachten abwarten. Auf Bauernhochzeiten wird die Bratwurst mit Kuchen und gepfeffertem Warmbier serviert. Während der Industrialisierung erfindet man neue Maschinen zur Fleischverarbeitung, die die Herstellungskosten drücken und so das private Grillen mit Freunden und Familien ermöglichen. Während der Bauer nun die Bratwurst mit den Händen isst und ihr somit ihren Nimbus raubt, entsteht der radikale Gegenentwurf: das bürgerliche Diner, ein mehrere Gänge umfassendes Menu, bei dem grosser Wert auf Etikette und Garderobe gelegt wird und jeder Gang eigenes Besteck erfordert. Nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert sich der Imbiss in Westdeutschland; er wird zum perfekten Ort für eine Grillstation. Und mit der Wiedervereinigung hält die Thüringer Bratwurst Einzug in die oberste Liga der bundesdeutschen Lebensmittel. Würde man nach dem bekanntesten Lebensmittel Deutschlands fragen, käme mit Sicherheit eine der folgenden Antworten: bayrische Weisswurst, Schwarzwälder Kirschtorte oder Thüringer Bratwurst. Doch die Bratwurst hat einen Makel: ihr Image. Es ist nicht chic, eine Wurst mit der Hand zu essen. Das Weisswurstessen wird wenigstens zelebriert, die Wurst gezuzelt. Doch Bratwurstessen rangiert ungefähr auf dem gleichen Level wie der Besuch bei McDonald’s. Das postmoderne, hippe und urbane Individuum isst Bratwurst als ironisches Statement und trinkt einen Sekt dazu. Einmal asi sein, nur für zehn Minuten.

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Im Gemeinderaum der Dorfkirche Haarhausen erwartet Berthold,Sänger der Rossbachlerchen, Gitarrist und seit kurzem Frontmann, seine Band zur ersten gemeinsamen Probe von Hossfelds Song. Ein langer Holztisch nimmt den Grossteil des Raumes ein. In den Ecken werden Trommeln und ein Keyboard unter Baumwolltüchern mit Blümchenmustern aufbewahrt. Auf den Schränken stehen Topfpflanzen, deren braune, harte Blätter herunterhängen. Nach und nach kommen die Rossbachlerchen an: Steffi mit ihrer Geige, Ralle mit Banjo, Willi mit Akkordeon. Dazu Siggi und Gunther, die Sänger. Sie setzen sich wie nach einer Sitzordnung an den langen Holztisch. Schnell steht vor allen Rotwein in bunten Plastikbechern mit ihren Namen darauf. Sie erzählen sich von den neuesten Einträgen in ihren Krankenakten und denen ihrer Freunde. Auf ihren Smartphones zeigen sie sich Urlaubsbilder. Steffi spielt das Intro, Berthold an der Gitarre und Willi am Akkordeon steigen ein. Nach wenigen Takten wippt Horst Hossfeld mit den Füssen. Die Rossbachlerchen singen:

«In Thüringen geboren /

Hast du es schon im Blute /

So manche Tradition, die prägt uns /

Ja, das ist das Gute.»

Ein unfallfreier erster Durchgang. Man merkt, dass die Rossbachlerchen schon seit Jahrzehnten in dieser Konstellation zusammenspielen. Dabei wirkt die Band wie eine Clique aus Jugendfreunden, die gemeinsam Musik machen und sich gern necken. Ralle und Siggi tuscheln und glucksen. «Ihr macht nur so einen Scheiss, weil die Presse da ist», sagt Steffi und ergänzt, sie sei übrigens gerade erst 25 geworden. Von hinten tönt Siggi: «Genau! Und dazu schreiben: zweimal unbefleckte Empfängnis!» Ralle setzt noch einen drauf: «Nee, zweimal günstig im Wind gestanden!» Im dritten Durchlauf brüllt Gunther beim Intro: «Stopp! Ich muss erstmal die Stimme ölen!» Die Sänger werden mit jedem Durchlauf sicherer und vor allem lauter. Gunther tanzt und formt mit seinen Händen einen Verstärker, Ralle am Banjo singt so inbrünstig mit, dass er rot anläuft. Horst Hossfeld trommelt auf seine Oberschenkel. Die Halb- und Vollglatzen der Männer glänzen, Steffis braune Haare wippen. Am Ende singen alle, die im kleinen Raum der Kirche Haarhausen um den langen Holztisch herumstehen:

«Bratwürste nur vom Rost – HEY!»

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In den vergangenen fünfzig Jahren hat sich der weltweite Fleischkonsum verfünffacht – trotz Lebensmittelskandalen und gewachsenem Bewusstsein gegenüber den Zuständen in der Massentierhaltung. 60 000 000 Schweine werden jährlich allein in Deutschland geschlachtet. 40 Kilo Schweinefleisch isst jeder Deutsche pro Jahr, davon die Hälfte als Wurst und Aufschnitt. Über 1500 regionale und lokale Wurstsorten gibt es in Deutschland. Sie alle sind Produkte von Traditionen. Wer gemeinsam isst, gehört auch zusammen: Wer sich zum Austernfrühstück trifft, sagt etwas anderes aus als Menschen, die zu einem Bratwurst-Songcontest gehen. Sich mit einem Essen zu identifizieren, das die Erfindung von Besteck, Tellern oder Tischsitten ablehnt, mag man seltsam finden. Und überhaupt: ein Tier zu töten und es höhnisch in den eigenen Darm zu stecken. Kann man sich etwas Ernied rigenderes vorstellen?

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«Thüringen ist eines von den schwierigen Bundesländern /

Denn es kennt ja keiner ausserhalb von Thüringen.»

So beginnt die Hymne des Kabarettisten Rainald Grebe auf seine Heimat. Das Heimspiel-Konzert in Jena ist jedes Jahr ausverkauft. Tausende singen dieses Lied mit. Es ist, als empfinden sie Gemeinschaft in diesen Zeilen.

«Thüringen, das grüne Herz Deutschlands /

Seit wann sind Herzen grün? /

Grün vor Neid aufgrund Bedeutungslosigkeit /

Grün vor Hoffnung, dass es lange Zeit so bleibt.»

Aus Mitsingen wird Mitgrölen, die Vokale werden immer länger:

«Und die Männer wollen im Stillen /

Nur raus in den Garten und Grilleeeeeeen!»

Angrillen an Neujahr, Abgrillen an Silvester – diese Termine sind unverrückbar. Immer, wirklich immer mit Rostbratwurst. Denn wenn Thüringer unter sich sind, grillen sie nicht, sie nennen es braten, und zwar auf dem Rost, nicht auf dem Grill. Und dies nach strengen Regeln: Die Holzkohle soll aus einer Mischung aus Laub- und Nadelholz bestehen, Experten pochen auf Wacholderholz. Die Kohle im Glutkasten darf nur mit Holzspänen entzündet werden, niemals mit Spiritus. Der Rost muss mit Speck eingerieben werden, bis er glänzt. Die Würstesollen möglichst eng auf dem Rost liegen, damit sie gleichmässig durchgaren und man mehrere gleichzeitig wenden kann. Streit gibt es bei der Frage: mit Bier ablöschen oder nicht? Ist die Wurst nach zehn bis fünfzehn Minuten braun und gar, legt man sie ins aufgeschnittene Brötchen. Senf drauf, fertig. Niemals Ketchup benutzen.

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Durch das Dorf Holzhausen im Thüringer Ilm-Kreis tuckern Traktore, Pferde schauen über die Mäuerchen einiger Grundstücke und wiehern aufgeregt, sobald man sich nähert. Den Kreisverkehr ziert eine meterlange Wurstskulptur im goldgelben Brötchen. Im Dorf leben 600 Menschen, aber setzt man sich für eine Zigarettenlänge an die einzige Bushaltestelle, passiert – nichts. Keine Autos, keine Fussgänger. Der Bus kommt hier während der Ferien nur vier Mal am Tag, in der Schulzeit doppelt so oft. Der letzte fährt immer um 17 Uhr 30. Ein Plakat neben der Haltestelle: Disco in Rehestädt mit DJ Alexx und Green Sun. Rum-Cola für einen Euro. All night long. Holzhausen ist ein Dorf, das durchreisende Rentner auf motorisierten Fahrrädern bestimmt mögen. Wow, ist das schön hier, sagen sie dann und machen hier eine Pause. Dann gehen sie ins Café Holtzhaus oder ins Western-Restaurant Lasso. Einige von ihnen werden noch zwei-, dreihundert Meter weiterradeln, werden den Geruch von gegrilltem Fleisch bemerken. Sie werden einbiegen – lachend, weil die Strasse Bratwurstweg heisst – und vor einem roten Backsteinhaus mit Fachwerk stehen: dem Deutschen Bratwurstmuseum.

Hier isst Uwe Keith, auf überdachten Picknickbänken sitzend, zwischen Streichelzoo und Kinderspielplatz, eine Bratwurst. Keith ist Vereinsvorsitzender der «Freunde der Thüringer Bratwurst», des Trägers des Museums, mit 20 000 Besuchern jedes Jahr grösster Wirtschafts faktor des Dorfes. Schlager dudelt aus den Boxen an der kleinen Bude hinter ihm. Frauen am Rost wenden die Würste, Fett tropft zischend in die glühende Kohle. Keith – Ende fünfzig, Cordhose, Karohemd, schwarzes Basecap mit «Thüringer»-Schriftzug und aufgedrucktem Wurstfoto – führt über das Gelände. Im Erdgeschoss des Museums zeigt Keith den Stammbaum der verschiedenen Schweinerassen: Wollschwein, Bunte Bentheimer, Deutsche Landrasse, Deutsches Edelschwein, Pietrain-Schwein. Für die Herstellung der Bratwurst werde jedoch ein Masthy-

brid verwendet, erklärt er. «Geschmacklich ist das auch kein grosser Unterschied.» Hinter Wiegemessern, Griebenschneidern und Wurstmollen – historischen Werkzeugen zur Fleischverarbeitung – sind Blechschilder mit Sinnsprüchen angebracht: «Wenn das Schwein am Haken hängt, wird der Erste eingeschenkt. Ist die Sau dann noch am Leben, kann man trotzdem einen heben.» Keith sagt, früher sei eigentlich jeder Arbeitsschritt mit Trinken verbunden gewesen. Keith ist ausserdem Inhaber des Internet-Shops wurstfan.com, der Merchandise rund um die Bratwurst vertreibt, und Geschäftsführer des Herkunftsverbands «Thüringer und Eichsfelder Wurst und Fleisch». In dieser Funktion sorgt er dafür, dass die Bezeichnung «Thüringer Rostbratwurst» nicht missbraucht wird. Bei Verstössen verschickt er Abmahnungen, denn eine EU-Richtlinie regelt exakt, was das Original ausmacht: Die Thüringer Rostbratwurst muss zwischen 15 und 20 Zentimeter lang und herzhaft gewürzt sein. Das gewolfte Fleisch, Brät genannt, hat aus entfettetem Schweinefleisch zu bestehen, alternativ aus Kalb oder Rind. Das Brät muss in einem Naturdarm stecken, das Stückgewicht darf maximal 150 Gramm betragen. Das ist das Reinheitsgebot der Bratwurst, offiziell verbrieft von der Europäischen Union als sogenannte geografisch geschützte Angabe.

Nächste Station beim Rundgang: das Bratwurstkino. Auf einer Leinwand laufen in Dauerschleife Aufzeichnungen der Stücke des Brat wursttheaters, das mittlerweile in die sechste Saison geht. Es geht immer um die urkundliche Ersterwähnung der Thüringer Bratwurst. Dieses Jahr läuft: «Hans Wurst und die Liebesbratwurst» – 39 Euro 90 inklusive Verkostung, auf Monate ausgebucht. Keith setzt den Rund gang auf dem eine Hektare grossen Aussengelände fort. Der erste Stopp ist die grösste begehbare Bratwurst der Welt. 26 Meter lang, dreieinhalb Meter Durchmesser. Die Decke hängt voller Holzwürste, an den Wänden sind aufgedruckte Zitate von Prominenten befestigt, die etwas Nettes über die Bratwurst oder Thüringen gesagt haben. Keith entdeckte die begehbare Wurst auf der Bundesgartenschau 2007 und sicherte sie sich als Exponat im Museum. Um sie im Aussengelände aufstellen zu dürfen, musste jedoch der Bebauungsplan von Holzhausen geändert werden. Zwar war der Gemeinderat zunächst skeptisch, auch gegenüber dem Bratwurst-Kreisverkehr und der Umbenennung der Strasse in Bratwurstweg. Aber die Wurstfreunde setzten sich jedes Mal durch.

Am Ende des Rundgangs sagt Keith, die Bratwurst sei für die Thüringer nicht nur ein Lebensmittel, sondern ein Lebensgefühl, das sich durch den gemeinsamen Verzehr ausdrücke. «Wir sind hier alle Regionalisten, im besten Sinne», sagt er und schränkt sofort ein, mit Nationalismus habe das nichts zu tun. Aber in Zeiten der Globalisierung müsse man die eigene Kultur pflegen und die eigenen Traditionen. «Wir möchten, dass das die nächste Generation versteht, verinnerlicht und verteidigt.» Gegen die Beliebigkeit, sagt Keith, gegen die Systemgastronomie und die Vereinheitlichung des Geschmacks. Keith bedauert es, wenn überall Filialen grosser Ketten entstehen und regionale Gerichte verschwinden. Schon heute esse kaum jemand noch Spezialitäten der deutschen Küche wie Herz, Niere, Leber oder Hirn. Deshalb vernetzt sich Keith: «Wenn die Freunde des pfälzischen Saumagens anrufen, fragen wir: Was können wir zusammen machen?» Er pflegt Partnerschaften in der ganzen Welt, bis nach China, Vietnam und in die USA. Seit zwei Jahren besucht er ein ungarisches Wurstfestival und lädt die Initiatoren im Gegenzug nach Holzhausen ein.

***

Mitte Mai, der Tag des Songcontests. Durch Holzhausen rollen die Autos. Zwei Jungs, beide keine achtzehn, versperren in orangefarbenen Westen die Zufahrt zum Museum. Oberlässig lehnt einer an der Hauswand, vor ihm der andere: Sonnenbrille, den Fuss auf einen Pylon gestellt: «Wir können hier keinen durchlassen.» Kurzer Blickkontakt nach hinten Richtung Hauswand. «Oder biste gehbehindert?»

Am Mittag verleiht das Museum den Bratwurstpreis an eine Anwaltskanzlei, die den Verein dabei beriet, die Bezeichnung «Thüringer Bratwurst» bei der EU schützen zu lassen. Uwe Keith sagt in seiner Laudatio, die Menschheitsgeschichte wäre ohne den Verzehr von Fleisch andersverlaufen. Erst dadurch habe sich das menschliche Gehirn derart komplex entwickeln können.

Keith trägt heute einen grauen Zweiteiler mit roter Krawatte. Er schreitet über das Gelände und schüttelt jede Hand, die ihm entgegengestreckt wird. Etwa die von Norbi, dem Suhler Grillzwerg, was zumindest so auf seinem Rücken steht. Er ist schätzungsweise Mitte vierzig, fast zwei Meter gross, trägt ein grün-gelb gestreiftes Kostüm und eine passende Mütze mit langem Zipfel. Keith schüttelt weitere Hände. Vor den überdachten Picknickbänken gestalten die Bänkel sänger – die Hausband – das Mittagsprogramm:

«Ist dein Mann ein geiler Bock /

Und starrt auf fremde Brüste /

Geh doch hin zum Bratwurststand /

Das ändert die Gelüste.»

Ein paar Radler in knallroter Multifunktionskleidung lachen hinter vorgehaltener Hand. Hinter ihnen telefoniert ein iPhone-Business-Mann in Steppjacke. Eine Delegation des «Bratwurschtclubs Fulda» freut sich über die Freiwurst, die das Museum anlässlich der Einweihung der Senftanksäule ausgibt. Es gibt ein kleines Feuerwerk. Weniger als eine Stunde vor dem Beginn des Contests trifft Berthold ein, der Frontmann der Rossbachlerchen. Die Lerchen wurden auf Startplatz eins gelost. Das heisst, ihr Auftritt beginnt in 45 Minuten, und noch ist ausser Berthold niemand da. Der telefoniert, während er ständig auf die Uhr schaut, sich auf den Bühnenrand setzt und wieder aufsteht. Wenigstens Drummer Schöni ist inzwischen angekommen. Schwarzes Hemd, schwarze Weste, schwarze Baskenmütze. Siggi und Ralle treffen ein, danach Steffi, im Kostüm als irische Jungfer: Perücke mit roten Haaren, üppig dekolletiert, kurzer Rock mit Karomuster, grüne Lackschuhe. Der Soundcheck wird zum Glücksfall, die Lerchen spielen Songs, die hier anscheinend jeder kennt. Die Leute singen mit, pfeifen vor Freude und geben lauten Zwischenapplaus während der Lieder.

Dann eröffnet Bratwurstkönig Gerhard I. mit Krone, Wurstzepter und Leopardenschärpe den Contest. Jeder Sitzplatz ist besetzt, an den Wän-

den wird gestanden. Es sind ungefähr 300 Leute gekommen. Auftritt Rossbachlerchen: Steffi spielt das Intro, die anderen steigen ein. Bereits bei den ersten Takten klatscht das Publikum mit, einzelne Zuhörer ste-

hen auf und schunkeln. Das Ende («Bratwürste nur vom Rost – HEY!») funktioniert – frenetischer Jubel des Publikums.

Später treten acht als Glitzernonnen verkleidete Frauen auf die Bühne. Die «Gemeindeschwestern Wandersleben» singen eine Gospelnummer für die Bratwurst: choraler Einstieg, danach Orgel und Rhythmus. Sie seien eindeutig die besten Sängerinnen, findet die Jury. Der Vertreter der Senffirma reisst zotige Witze. Die letzte Band. Mittlerweile sind über drei Stunden vergangen, die Scheune hat sich etwas geleert. Die ersten Omas dösen, als zwei junge Männer die Bühne erklimmen. Einer oben ohne, recht haariger Bauchansatz, darüber ein Seemannsjackett, Mofahelm mit Spikes, Bi-

kerhandschuhen und geflochtenem Bart bis zum Bauchnabel. Der an-

dere im Oberkellnerhemd, mit Federohrringen, Kindergitarre und Son-

nenbrille. Beide tragen schwere Stiefel und Leggins. Sie stellen sich vor als Monoment aus Mannheim, bestehend aus Sergeant Turnpike und Doctor Shred. Der Moderator startet den Billig-Techno-Beat vom Band. Sgt. Turnpike fordert: «Lauter! Ja! Noch lauter!» Die Omas erwachen. «Herzlich willkommen in der Kirche der Wurst / Ich bin euer Priester, habt keine Furcht.»

Dr. Shred übernimmt: «Der Grill, der Altar / Schalalalala!» Er klatscht mit beiden Händen über seinem Kopf, das Publikum ignoriert diesen Impuls. Offene Münder, nach oben gezogene Augenbrauen, Hände massieren Schläfen, Köpfe werden geschüttelt. Einige gehen. Monoment spaltet die Scheune. Die Gemeindeschwestern Wandersleben lachen, und die mitgereiste Entourage der beiden unterstützt lautstark.

«Brat mich, brat mich, make me hot /

B-B-B-Be my fleisch gewordner Gott /

Komm mit mir ins gelobte Land /

Thüringen! Wurst is my religion!»

Dr. Shred springt von der Bühne und entzündet ein kleines Tischfeuerwerk am Gitarrenhals. Er spielt ein Solo, aus der Gitarre sprühen Funken. Sgt. Turnpike wirft sich eine Thüringenflagge um, stolziert durch die Reihen und zündet eine Konfettikanone. Volle Punktzahl aus der Jury für die Show und dafür, dass sie jung sind und extra aus Baden-Württemberg angereist sind. Der Moderator fragt: «Welche Drogen nehmt ihr eigentlich, um auf so was zu kommen?» «Keine ausser der Bratwurst.» Gelächter. Die beiden Designstudenten Mitte zwanzig haben die Band am Reissbrett entworfen, um sie als Projektionsfläche der eigenen Kunst zu nutzen. Lerchen-Sänger Gunther findet ihr Lied grenzwertig, wegen der Kirche und so. Zu eigenen Chancen sagt er: «Gewinnen weiss ich nicht, aber top drei, das ist schon drin.»

Die Publikumswertung haben sie klar für sich entschieden, nur die Jury war anscheinend nicht überzeugt. Die Lerchen werden Dritte. Sie gehen auf die Bühne. Routiniertes Händeschütteln, Küsschen für die Grillvertreterin, Foto mit dem Bratwurstkönig und wieder runter. «Dann machen’s die Nonnen», meint Gunther. Der Moderator tippt auf seinem Mikrofon herum, um festzustellen, ob es angeschlossen ist. «Gewonnen hat die Gruppe Monoment aus Mannheim!» Die beiden kraxeln auf die Bühne und fallen vor Bratwurstkönig Gerhard I. auf die Knie. Ein Mädchen filmt die beiden, wenige Tage später laden sie in ihrem Youtube-Kanal das Video hoch. Sie halten den Preis in den Händen, einen Gutschein für eine Grillparty: hundert Bratwürste, hundert Liter Bier. Sgt. Turnpike stemmt die zehn Kilo Senf, die sie sofort mitnehmen dürfen. Victory-Zeichen, Umarmungen, Lachen, Zugabe.

Dr. Shred stimmt wieder an: «Der Grill, der Altar – Schalalalala.» Er muss zweimal ansetzen, um über die Lippen zu kriegen: «Und jetzt alle klatschen!» Dieses Mal gehorcht das Publikum. Im Viervierteltakt: «Wurst – is – my – Re – li – gion!»

Vor der Zugabe hatte der Moderator hinzugefügt: «Ihr wisst schon, dass es neben dem Grillfest noch einen Preis gibt, oder?» Ein Auftritt im kommenden März auf der «Rostkultur», der offiziellen Eröffnung der Grillsaison – vor 10 000 Leuten, direkt auf dem Domvorplatz in Erfurt. Wie beim ersten Auftritt streckt Dr. Shred am Ende des Songs die Arme aus, vor ihm kniet Sgt. Turnpike in Richtung Publikum. Gemeinsam formen sie ein Kreuz.

«Wurst Unser in Thüringen /

Geheiligt werde dein Name /

Dein Reich komme /

Dein Grille geschehe /

Denn dein ist das Reich und der Saft und die Herrlichkeit in Ewigkeit

/ Darmen!»

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